Eine Stimme sprach direkt in deinen Magen hinein, was du angesichts deines Zustandes unhöflich fandest.»Frollein Hanske, ick sag nur, det wart, Sie wissen Bescheid!«
Du versuchtest, noch schnell aufzulegen, bevor du auf das Telefon kotztest. Sowieso, dachtest du. Du warst gestorben, und zwar für jeden. Da sollte der Café-Kröske sich mal nichts einbilden. Du gingst wieder ins Bett. Aber das Bett gehörte zur Wohnung, und die Wohnung gehörte deiner Vermieterin, und die wollte bald vertröstet sein über die bis auf Weiteres ausbleibende Miete. Mehrmals klingelte es, aber du öffnetest nicht. Du fingst an, wieder rauszugehen. Aber nur nachts, und nirgendwohin. Einmal sprach dich ein Mann an, und du nahmst ihn mit, weil du an die Miete dachtest, aber dann sagtest du vor der Haustür zu ihm, es ginge doch nicht. So viel würde er nie rausrücken.»Ick habe Geld dabei«, sagte er empört. Aber nicht genug. Und du wolltest nichts einreißen lassen. Was war jetzt mit diesem Ziel.
Du strichst um dein Ziel herum. Du wolltest nichts, gar nichts, aber die Langeweile machte dir zu schaffen. Du last die wildwuchernden Aushänge, aus Langeweile, eine WG wolltest du erst recht nicht. So einen kleinen, durchorganisierten Puff. BOTANISCHER GARTEN, hieß nicht eine Haltestelle so? HILFSARBEITEN. Vermutlich schlecht bezahlt. Aber das Bild von Pflanzen legte dich nicht sofort lahm, also fuhrst du hin. Dort kamst du dir wieder dumm vor; du warst die erste und einzige Bewerberin, schienst aber nicht sonderlich willkommen zu sein. Vielleicht sahen sie dir etwas an. Vielleicht dasselbe, was du sahst, wenn du zufällig in einen Spiegel gucktest.
Man gab dir eine Aufgabe, das war gut, aber du konntest hören, dass es eine war, vor der man sich besser drückte. Es würde nicht gerade der Kuhstall sein. Es war ein Gewächshaus. Opuntia stand auf den Schildern dieser platten Kakteen. Du musstest fast weinen, sie rührten dich wie Tiere. Stolz und wehrlos, nur einige hatten lange, einzelne Stacheln, die Handschuhe, die man dir gegeben hatte, erschienen dir übertrieben wie eine Waffe. Opuntia hatte abgeblüht und musste umgepflanzt werden. Ihre matte Oberfläche wirkte wie Haut, nur schöner, blaugrün. Du strichst mit der flachen Hand über die kleinen bräunlichen Samtbüschel. Du sahst deinen Fehler sofort ein. Das war ein richtiger, eindeutiger Fehler, dachtest du. So haben Fehler zu sein. Sie müssen sofort weh tun. Winzige, nicht entfernbare Stachelhärchen. Wiederholung unnötig. So was war Liebe. Du warst ihnen nicht böse. Du liebtest sie schon.
Du warst allein. Die ganze Zeit über hatte der Gedanke, kaum jemanden zu kennen in der ganzen halben Stadt, von kaum jemandem gekannt zu werden, mit keinem hier verwandt zu sein und überhaupt schwer erreichbar in dieser Enklave, Exklave, dir große Befriedigung verschafft. Sie steigerte sich zur Euphorie, als du vor dem Sekretariat der Uni mit wohl hundert anderen Leuten darauf wartetest, zur Einschreibung vorgelassen zu werden. Auf einmal fiel dir dein Vater ein, und der Gedanke kränkte dich. Er zerstörte deine Absolutheit. Dein Vater war tot, ja, aber er war hier.
Er befand sich in einer Urne auf dem Städtischen Friedhof Reinickendorf, so viel wusstest du. Du warst nie dort gewesen, fuhrst auch jetzt nicht hin, obwohl du nur ein paar U-Bahn-Stationen entfernt wohntest. Du fühltest, dass das undankbar sein musste. Aber Dankbarkeit war eben auch etwas, was du endlich loswerden wolltest. Ein besonderes Talent dazu hattest du ohnehin nie gehabt. Und schien in diesen Westberliner Tagen nicht alles eine Frage des Talents? Das ersetzte dir einiges, andere Wörter, ›Veranlagung‹, ›Potential‹, und das Leben war schließlich kein Entwicklungsroman, oder? Ach, hör auf, das Wort kanntest du da noch gar nicht. An der Beisetzung hattest du nicht teilgenommen. Du warst erst am selben Tag angekommen, noch rechtzeitig, aber du konntest den Friedhof nicht finden, verfuhrst dich, sprachst niemanden an, ein Taxi trautest du dich nicht zu nehmen, aus Angst, es verschlänge sofort einen Großteil deiner Ersparnisse. Dann war es dir plötzlich egal. Du standest mitten auf einer Kreuzung, es muss irgendwo in Schöneberg gewesen sein, völlig falsch. Du fragtest dich, was gewesen wäre, wenn dein Vater lieber heilen Leibes unter die Erde gekommen wäre, wenn die Behörden nicht anderthalb Wochen Zeit zum Vertrödeln gehabt hätten. Ständest du dann hier? Diese Frage schien dir so wichtig, dass sie dich paradoxerweise die Wichtigkeit der Beerdigung nicht länger einsehen ließ. Du standest hier, und nur das zählte. Das war nicht so opportunistisch, wie es aussah. Erst da wurde dir nämlich klar, dass dein Vater tot war. Toter als tot. Dass er ja nie gelebt hatte, nicht für dich. Also was solltest du auf dieser Trauerfeier. Schließlich war er nicht für dich gestorben. Du hattest gar nicht gemerkt, wie sich im Laufe der Zeit Gleichungen zwischen euch aufgestellt hatten, ein ganzes Gleichungssystem, und als es dich eines Tages schrecklich wie in einer Mathearbeit anflimmerte, konntest du nicht überblicken, ob es mehr Gleichungen als Unbekannte waren oder umgekehrt. Sicher war nur, dass es entweder keine oder unendlich viele Lösungen gab.
Was deine Mutter betraf, so wagtest du dich nicht mal an eine Ungleichung. Auf welche Seite du dich auch geschrieben hättest, das Zeichen wäre doch immer auf dich gerichtet gewesen. Und so eine Selbstgerechtigkeit untersagtest du dir. Selbstmitleid, meinst du. Du hattest dich entfernt aus diesem System. Es musste doch verschiedene geben, wie in der Musik. Naturgesetze, ja doch, mein Gott. Dann musste es eben verschiedene Naturen geben. Zumindest war euch beiden das Gleiche klar, klargewesen schon, als du ihr sagtest, du würdest den Antrag stellen. Klargewesen auch, als du die Papiere erhieltst: Du durftest fahren zur Beerdigung eines Angehörigen ersten Grades, aber nur du, allein, ohne Angehörige welchen Grades auch immer. Ein Rückholbändchen, das fast sofort riss.
So eine Klarheit. Die wollte dir später nie wieder gelingen, du verzehrtest dich nach diesem Gefühl, das dich an jenem Morgen aufspannte wie ein Segel, als du heraustratest in die tonlose Februardunkelheit. Du hattest niemanden geweckt, aber dann stand Anna Hanske doch in der Tür, du hattest nicht daran gedacht, dich nicht umzudrehen. Und da sahst du es ihr klar und deutlich an: dass du diesen Weg nicht zurückgehen würdest. Vielleicht stimmt es nicht, aber dir war, als wüchse dir erst in diesem Augenblick die letzte Entschlossenheit zu. Deine Tasche war klein, wirkte unverdächtig. Nur zwei oder drei ließen sich nicht täuschen. Du sahst nicht zu dem kleinen Fenster hoch, obwohl du wusstest, dass dort kein Winken sein würde.
Es kam dir wie eine Verabschiedung vor, als der blasse, nicht sehr große Junge, ›Mann‹ konntest du nicht denken, dir über den nun leeren Platz hinweg zuwinkte. Die anderen waren wieder verschwunden, in ihren Betten und Angelegenheiten, wie mit der Nacht zurückgesaugt, abgesaugt von dir, und der sich dort nur dank seiner schwarzen Jacke und seiner fast ebenso schwarzen Haare deutlich von der grauen Fassade hinter ihm abhob, überscharf fast, dessen weißes Gesicht sich in der Milchfarbe des Himmels aufzulösen drohte, der da an seiner flatternden Hand hing wie ein Trauerflor, den der Januarwind gleich abreißen und zusammen mit den über den Platz treibenden schmutzigroten Pappröhrchen davonwehen würde, schien dir auf unbegreifliche Weise über alle Wahrscheinlichkeiten erhaben, als er auf dich zustakste, eine tapfere kleine Elster. Du bliebst einfach schief da stehen. Dir war, als flösse Niederprozentiges durch deine Adern, klebrige Liköre. Als er dich fast erreicht hatte, als du sicher sein konntest, nicht mehr missverstanden zu werden, winktest du zurück, weil dir plötzlich sein Name wieder einfiel.
«Hallo. Ingrid«, sagte ein blaugefrorener Mund.»Wie schön.«
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