Die Male, die er hier war, dir beim Aufräumen, Ordnen, Ausräumen geholfen hat, machten dich ratlos. Noch immer kennt er sich mit allem besser aus als du. Aber das ist es natürlich nicht. Das ist das Beruhigende. Du weißt nicht, was es ist, nur, dass du wie als Kind keinen Namen für das hast und auch nicht haben willst, was vielleicht noch nicht mal die Bezeichnung ›Gefühl‹ verdient. Du fragst dich, albern, aber eventuell aufschlussreich, ob Peter irgendwo einen Zwillingsbruder aufgetrieben habe. Und er selbst wäre weg, weit weg, vielleicht nicht gerade in» Jenseits«, aber doch weit genug, und nur der Firmenwahlspruch wäre als letzter und schließlich doch noch ganz witziger Hinweis auf ihn geblieben. Und du hättest es jetzt mit diesem Zwillingsbruder zu tun, der, ebenfalls als Flüchtlingskind, aber ganz woanders, aufgewachsen wäre, etwas geordneter, etwas akzeptierter, kein Stotterer, und trotzdem, wie die Zwillingsforschung herausgefunden hat, in wesentlichen Zügen mit Peter übereinstimmen müsste, und wie solltest du, nach mehr als zwanzig Jahren, da überhaupt einen Unterschied merken. Aber du hast ihn bemerkt.
Peter hat zu dir gesagt, wenn dir während der Tage, die du in diesem Haus seist, irgendetwas auffiele, solltest du ihm Bescheid sagen, er würde dann» anrücken«.
«Was denn?«, hast du gefragt.
«Na, Ungeziefer, Schimmel, du weißt schon. «Er hat gelächelt, als wäre ihm irgendetwas peinlich.
«Mutter «habe das ja nie gewollt, dass er mal alles» auf Vordermann «bringe, das könntest du dir ja denken, was sie davon gehalten habe, von» der ganzen Chemie«. Das konntest du. Daneben auch, dass sie ihren Sohn nicht in dem roten Overall hatte sehen wollen, mit der Schutzmaske vorm Gesicht, mit der Giftspritze in der Hand, mit diesem Beruf.
Du hoffst, dass Peter morgen vor» dem «kommt, dass der Tisch dann weg ist. Er passt zu gut hierher, etwas anderes als dieser Tisch ist an der Stelle nicht denkbar, und du hast Angst, das dies auch» der «finden und also nicht nur das Haus, sondern auch noch den Tisch mit kaufen wollen könnte, um ihn genau hier stehen zu lassen, und das willst du nicht. Es ist kompliziert, aber wohl ungefähr so: Du würdest darauf reagieren wie auf den frevelhaften Wunsch von jemandem, in einem Museum wohnen zu wollen. Nur eben umgekehrt. So wenig, wie du es guthießest, wenn einer allein mehr von dem Museum hätte als alle anderen, sowenig behagte es dir, wenn alle anderen, und das sind in diesem Fall alle außer dir, mehr, und anderes, von diesem Museum hätten als du. Damit bist du noch nicht diejenige, die im Museum wohnen will. Du willst es ja gerade nicht. Aber was soll unter diesen Bedingungen dann noch für die anderen bleiben? Vielleicht ist es doch einfacher, als du wahrhaben willst.
Es gibt nichts mehr zu tun, dein Frösteln, der Schreck vorhin waren umsonst. Als ihr letzte Woche ankamt, Peter euch die Tür aufschloss und sofort anbot, Kaffee zu kochen, hättest du gerne gesagt, das sei nicht nötig. Er könne ruhig nach Hause fahren, seine Frau warte doch bestimmt. Du wolltest allein sein, Michael und Paul hättest du am liebsten vor die Tür gejagt, seht euch doch erst mal ein bisschen um. Das ging natürlich nicht. Aber es ging doch auch nicht, dass sie hier alle zusammensaßen, in einer Art Überlappung von Mengen, von Parallelwelten, mit dir als beiden gleichermaßen zugehörigem Element, und beide schienen dir aufzulauern, eine deutbare Reaktion zu verlangen, waren gespannt, wie du deine zwiefache Zugehörigkeit — na: welchen Eiertanz du zwischen den Welten aufführen würdest. Und was das für Eier waren, die es nicht zu zerbrechen galt.
Du hattest vorher vorsichtig mit Peter darüber gesprochen, am Telefon, und niemand außer euch hätte dieses abgehackte, nur aus Anläufen, Rückziehern, Andeutungen bestehende Gespräch interpretieren können, kein interpreter es verdolmetschen, trotzdem hattest du das Gefühl, plötzlich, wie in einem Moment übergroßer Erschöpfung, alles zu gestehen. Paradox, denn Peter war der Einzige, außer deiner nunmehr endgültig schweigsamen Mutter, der ja bereits alles wusste. Aber es scheint beinah die größere Befriedigung darin zu liegen, demjenigen eine Schuld zu offenbaren, der um diese Schuld schon weiß und für den sie keine Offenbarung darstellt. Man muss nicht erst diese lästige Fremdheit überwinden. Die, die ein Informationsgefälle zwischen zwei Menschen notwendigerweise hervorruft und die im Aufklärungsmoment und den überraschten Augen des anderen zu einer unerträglichen Konzentration ansteigt. Nur durch sie sind eigentliche Geständnisse so schwer, und so selten.
Du hattest Peter also gebeten, ein Schweigen zu bewahren, und warum, hat er sich denken können, nicht mal das musstest du gestehen. Trotzdem legte sich schon auf der Autofahrt von Berlin nach Bresekow eine klamme Furcht um dich, und als ihr dann zusammen in der Küche saßt, hatte sie dich fest eingehüllt und war dir zuwider wie kaltnasse Wadenwickel um den fiebernden, wehrlosen Körper. Du brachtest zunächst kein Wort heraus, aus Angst, genau dieses könnte das falsche sein, der Stein zu viel auf dem mühsam errichteten Turm. Was wolltest du in dieser Höhe? Jeder Blick hinunter machte dich schwindeln, also vermiedst du ihn, aber jetzt stand unten Peter und wusste nicht, ob er rufen durfte, und blickte beständig hinauf und du hinunter. Und ihr hattet Schwierigkeiten, euch überhaupt zu erkennen.
Peter füllte einen alten Pfeifkessel mit Wasser und stellte ihn auf den Gasherd. Du hättest behaupten können, den Kessel wiederzuerkennen, aber es war wohl doch nicht mehr derselbe, wenn er auch nicht viel jüngeren Datums sein konnte. Du starrtest in die blaue Flamme, die ganz anders blau war als die Flammen der Herde in Berlin, in Norwich, in Dublin, auch in Kinsale, wärmer würdest du sagen, wenn man dir nicht beigebracht hätte, dass Blau eine kalte Farbe sei. Propangasblau. Die Flamme machte dir klar, dass du zu Hause bist. Sie behauptete es nicht nur, wie alles andere. ›Zu Hause‹ hatte hier aber nichts mit Nestwärme, mit Heimat und Gemütlichkeit zu tun. Es war nur ein Fakt, wie der, dass ein Gegenstand an einem gespannten Gummiband mit desto mehr Wucht an seinen Ausgangspunkt zurückschnellt, je stärker man es ausgedehnt hat, und du konntest nur hoffen, dass du nicht noch über diesen Ausgangspunkt hinausschießen würdest, in eine Art negativen Bereich. Falls das nicht ohnehin unvermeidlich, längst schon geschehen war.
Es störte dich sofort, wie Peter den Hausverwalter spielte, wie er eifrig, und, wie dir schien, ein wenig zittrig die Schränke auf- und zuklappte, mit den Tassen hantierte, wie er euch fragte, ob ihr erst mal das Haus sehen wolltet. Du konntest dich nicht beherrschen, ihn fragend anzusehen, und es war eine Frage, auf die er offenbar keine Antwort wusste. Die er vielleicht kaum verstand, so wie du ihn kaum verstehen kannst, in dieser Sprache, die er jetzt fließend spricht. Die hattest du nicht gemeint, damals. Aber wie hätte er sich sonst verhalten sollen? Es ließ sich doch nicht so tun als ob, nämlich als ob nichts, es ließ sich doch nicht das Jahr Dreiundsiebzig an das Jahr Neunundneunzig Kante an Kante anlegen, und alles dazwischen verschwände in der Dunkelheit einer überdimensionalen Kellerfalte, eine Kalenderreform sondergleichen. Im Grunde konntest du froh sein, überhaupt so behandelt zu werden: wie unerwarteter, etwas schwieriger Besuch.
Wie zu Besuch spürtest du auch gleich einem zu engen Sonntagsschuh die dumme Verpflichtung drücken, etwas sagen zu müssen, als Peter euch zu den einzelnen Zimmern führte, Worte wie ›schön‹, ›interessant‹, zumindest ›aha‹, aber der Mund war dir wie zugenäht, bis dir aufging, dass dies die Gelegenheit gewesen wäre, diese Worte endlich in ihrer ganzen erpressten Verlogenheit auszustellen, und da warst du beinahe so weit, sie zu sagen. Aber auf einmal tat Peter dir leid. Wie er versuchte zu lächeln, als er sagte, ihr hättet die Auswahl, Betten gebe es in diesem Haus noch immer mehr als genug, und wie das Lächeln dann ins Stottern geriet: du und dein Mann, ihr müsstet nicht in dem Ehebett schlafen, auch das Sofa im Wohnzimmer sei sehr bequem. Nur, falls es euch, falls ihr das nicht wolltet.
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