Die Langeweile ist die Geduld der Angst. Sie will ja nicht übertreiben. Nur manchmal, und darum geht es ihr besonders, will sie wissen, wie es mit mir steht.
Ich könnte ein Stück gespartes Brot aus dem Kissen essen, mit bisschen Zucker oder Salz. Oder meine nassen Fußlappen auf der Stuhllehne neben dem Ofen trocknen. Das Holztischchen wirft einen längeren Schatten, die Sonne hat sich gedreht. Im Frühjahr, im nächsten Frühjahr organisiere ich mir vielleicht zwei Gummistücke vom Förderband aus der Fabrik oder von einem Autoreifen aus der Garage. Dann bringe ich sie zum Schuster.
Als erste hat Bea Zakel im Lager Ballettki getragen, schon im vorigen Sommer. Ich kam zu ihr in die Kleiderkammer, ich brauchte neue Holzschuhe. Ich wühlte herum in dem Schuhhaufen, und Bea Zakel sagte: Ich habe nur zu große oder zu kleine, Fingerhüte oder Schiffe, die mittleren sind alle weg. Ich probierte viele, um länger zu bleiben. Zuerst entschied ich mich für kleine, dann fragte ich, wann wieder mittlere kommen. Dann behielt ich zwei große. Bea Zakel sagte: Zieh sie gleich an, lass die alten hier. Schau, was ich hab, Ballettki.
Ich fragte: Woher.
Sie sagte: Vom Schuster. Schau, die biegen sich wie barfuß.
Was kosten sie, fragte ich.
Sie sagte: Das musst du Tur fragen.
Die Gummistücke gibt Kobelian mir vielleicht umsonst. Sie müssten mindestens so groß wie zwei Schaufelblätter sein. Für den Schuster brauche ich Geld. Ich müsste Kohle verkaufen, solang es noch kalt ist. Im Sommer, im nächsten Sommer zieht die Langeweile vielleicht die Fußlappen aus und trägt die Ballettki. Dann läuft sie wie barfuß.
Anfang November ruft Tur Prikulitsch mich in seine Dienststube.
Ich habe Post von zu Hause.
Vor Freude tickt mein Gaumen, ich krieg den Mund nicht zu. Tur sucht im halboffenen Schrank in einer Schachtel. An der geschlossenen Schrankhälfte klebt ein Bild von Stalin, hohe graue Backenknochen wie zwei Abraumhalden, die Nase imposant wie eine Eisenbrücke, sein Schnauzbart wie eine Schwalbe. Neben dem Tisch dubbert der Kohleofen, darauf summt ein offener Blechtopf mit Schwarztee. Neben dem Ofen steht der Eimer mit Anthrazitkohle. Tur sagt: Leg mal bisschen Kohle nach, bis ich deine Post gefunden habe.
Ich suche im Eimer drei passende Brocken, die Flamme springt wie ein weißer Hase durch einen gelben Hasen. Dann springt der gelbe durch den weißen, die Hasen zerreißen einander und pfeifen zweistimmig Hasoweh. Das Feuer bläst mir Hitze ins Gesicht und das Warten Angst. Ich schließe das Ofentürchen und Tur schließt den Schrank. Er überreicht mir eine Rot-Kreuz-Postkarte.
An der Karte ist mit weißem Zwirn ein Foto angenäht, akkurat gesteppt mit der Nähmaschine. Auf dem Foto ist ein Kind. Tur schaut mir ins Gesicht, und ich schau auf die Karte, und das angenähte Kind auf der Karte schaut mir ins Gesicht, und von der Schranktür schaut uns allen Stalin ins Gesicht.
Unter dem Foto steht:
Robert, geb. am 17. April 1947.
Es ist die Handschrift meiner Mutter. Das Kind auf dem Foto hat eine gehäkelte Haube und eine Schleife unterm Kinn. Ich lese noch einmal: Robert, geb. am 17. April 1947. Mehr steht nicht da. Die Handschrift gibt mir einen Stich, das praktische Denken der Mutter, das Platzsparen durch das Kürzel geb. für geboren. Mein Puls klopft in der Karte, nicht in der Hand, in der ich sie halte. Tur legt mir die Postliste und einen Bleistift auf den Tisch, ich soll meinen Namen suchen und unterschreiben. Er geht zum Ofen, spreizt die Hände und horcht, wie das Teewasser summt und die Hasen im Feuer pfeifen. Erst verschwimmen mir vor den Augen die Rubriken, dann die Buchstaben. Dann knie ich am Tischrand, lasse die Hände auf den Tisch fallen und das Gesicht in die Hände und schluchze.
Willst du Tee, fragt Tur. Willst du Schnaps. Ich habe geglaubt, du freust dich.
Ja, sage ich, ich freue mich, weil wir zu Hause noch die alte Nähmaschine haben.
Ich trinke mit Tur Prikulitsch ein Glas Schnaps und noch eins. Für Hautundknochenleute ist das viel zu viel. Der Schnaps brennt im Magen und die Tränen im Gesicht. Ich habe ewig nicht geweint, meinem Heimweh trockene Augen beigebracht. Ich habe mein Heimweh sogar schon herrenlos gemacht. Tur drückt mir den Bleistift in die Hand und zeigt auf die richtige Rubrik. Ich schreibe zittrig: Leopold. Ich brauche deinen Namen ganz, sagt Tur. Schreib du ihn ganz, sag ich, ich kann nicht.
Dann gehe ich mit dem angenähten Kind in der Pufoaika-Jacke hinaus in den Schnee. Von draußen sehe ich im Fenster der Dienststube das Fensterkissen gegen den Luftzug, von dem mir die Trudi Pelikan erzählt hat. Es ist akkurat genäht und ausgestopft. Die Haare der Corina Marcu haben dafür nicht gereicht, es sind bestimmt noch andere drin. Aus den Glühbirnen fließen weiße Trichter, der hintere Wachturm pendelt im Himmel. Im ganzen Schneehof sind die weißen Bohnen vom Zither-Lommer verstreut. Der Schnee rutscht mit der Lagermauer immer weiter weg. Aber auf dem Lagerkorso, wo ich gehe, hebt er sich an meinen Hals. Der Wind hat eine scharfe Sense. Ich habe keine Füße, ich gehe auf den Wangen und habe bald keine mehr. Ich habe nur das angenähte Kind, es ist mein Ersatzbruder. Meine Eltern haben sich ein Kind gemacht, weil sie mit mir nicht mehr rechnen. So wie die Mutter geboren mit geb. abkürzt, würde sie auch gestorben mit gest. abkürzen. Sie hat es schon getan. Schämt sich die Mutter nicht mit ihrer akkuraten Steppnaht aus weißem Zwirn, dass ich unter der Zeile lesen muss:
Meinetwegen kannst du sterben, wo du bist, zu Hause würde es Platz sparen.
Im Weißen unter der Zeile
Die Rot-Kreuz-Postkarte meiner Mutter kam im November ins Lager. Sie war sieben Monate unterwegs. Zu Hause abgeschickt wurde sie im April. Da war das angenähte Kind schon ein Dreivierteljahr auf der Welt.
Die Karte mit dem Ersatzbruder habe ich zu dem weißen Taschentuch ganz unten in den Koffer gelegt. Auf der Karte stand nur eine Zeile, und darin kam ich mit keinem Wort vor. Nicht einmal im Weißen unter der Zeile.
Im Russendorf hatte ich um Essen betteln gelernt. Bei der Mutter um Erwähnung betteln wollte ich nicht. In den zwei verbliebenen Jahren habe ich mich gezwungen, nicht auf die Karte zu antworten. Betteln gelernt hatte ich in den zwei vergangenen Jahren vom Hungerengel. In den zwei verbliebenen lernte ich vom Hungerengel den rauhen Stolz. Er war so roh wie das Standhaftbleiben vor dem Brot. Er plagte mich grausam. Jeden Tag zeigte der Hungerengel mir die Mutter, wie sie an meinem Leben vorbei ihr Ersatzkind füttert. Aufgeräumt und satt fuhr sie mit ihrem weißen Kinderwagen in meinem Kopf hin und her. Und ich schaute ihr von überall zu, wo ich nicht vorkam, nicht einmal im Weißen unter der Zeile.
Jeder hier hat seine Gegenwart. Jeder hier berührt mit seinen Gummigaloschen oder Holzschuhen den Boden, und sei es zwölf Meter unterhalb der Erde im Keller, und sei es auf dem Schweigebrett. Wenn der Albert Gion und ich nicht gerade arbeiten, sitzen wir dort auf der Bank aus zwei Steinen und einem Brett. Im Drahtgitter brennt die Glühbirne, im offenen Eisenkorb ein Koksfeuer. Wir ruhen uns aus und schweigen. Oft frage ich mich, kann ich noch rechnen. Wenn wir jetzt im vierten Jahr und im dritten Frieden sind, muss es hier im Keller auch den ersten und den zweiten Frieden gegeben haben, so wie es einen Vorfrieden gegeben haben muss, ohne mich. Und so viele Tag- und Nachtschichten wie Erdschichten muss es im Keller hier geben. Und meine Schichten mit dem Albert Gion, ich hätte sie zählen sollen, aber kann ich noch rechnen.
Kann ich noch lesen. Zu Weihnachten hatte ich von meinem Vater ein Buch bekommen: Du und die Physik . Darin stand, dass jeder Mensch und jedes Ereignis seinen eigenen Ort hat und seine eigene Zeit. Es ist ein Naturgesetz. Und darum hat jedes und alles seine eigene Berechtigung auf der Welt. Und zu allem, was existiert, seinen eigenen Draht, den Minkowski-Draht. So wie ich hier sitze, steht über meinem Kopf der Minkowski-Draht gerade nach oben. Und wenn ich mich bewege, biegt er sich so wie ich und macht diese Bewegung mit. Ich bin also nicht allein. Auch jeder Winkel im Keller hat seinen Draht und jeder im Lager. Und kein Draht berührt den anderen. Es ist ein streng geordneter Drahtwald über allen Köpfen. Jeder an seiner Stelle atmet mit seinem Draht. Der Kühlturm atmet sogar doppelt, denn die Kühlturmwolke hat wahrscheinlich ihren eigenen Draht. Auf ein Lager angewendet, kennt sich das Buch nicht so gut aus. Auch der Hungerengel hat seinen Minkowski-Draht. Aber in dem Buch stand nichts davon, ob ein Hungerengel seinen Minkowski-Draht immer bei uns lässt und deshalb gar nicht weggeht, wenn er sagt, er kommt wieder. Vielleicht hätte der Hungerengel Respekt vor dem Buch, ich hätte es mitbringen sollen.
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