Sie war es nicht, hatte sie gedacht, als sie mit hängender Zunge zur S-Bahn geflohen war.
Nein, sie nicht.

Blutprobe, nun doch. Die Schwester sticht die Kanüle aufs Geratewohl in die Armbeuge, eine Vene ist nicht auszumachen. Obwohl Helene die
tiefe Mitte
angegeben hat als die Stelle des wahrscheinlichen Erfolgs, bohrt das Weib seitlich davon in ihr herum, dass es schmerzt, ihr wird beinahe schwarz vor Augen. Schließlich gibt sie auf und holt einen jungen Assistenzarzt, der mit viel Ruhe und Gelassenheit ans Werk geht. Für den weiten sich doch die Venen von selbst, denkt Helene und glaubt für den Moment, sich einen diesbezüglichen Impuls durch den Körper gejagt zu haben. Tatsächlich findet er zeitgleich die richtige Stelle, und zwar genau da, wo Helene angegeben hat. Genugtuung beim Arzt, bei ihr nicht minder. Während das dicke Blut in die Röhrchen läuft, teilt sie ihm plötzlich im Ton heiterer Nebensächlichkeit mit, das Ergenyl chrono nicht mehr genommen, sondern ausgeschlichen zu haben. Lächelt ihn an. Sein fragender Blick macht ihr klar, dass er ja gar nicht Bescheid weiß, natürlich.
Ergenyl chrono?
Nicht nur sein Blick fragt, auch die Stimme tut es.
Sie muss überlegen, wie sie ihm das am besten erklären kann. Ihr graut vor längerem Reden, sie weiß, dass sie nur ein oder zwei Sätze im Voraus überblickt und dann unweigerlich ins Stocken gerät, um erneut ein oder zwei Sätze bewusst vorwegzunehmen. Wenn sie ihr Sprechtempo besser steuern könnte, langsamer sprechen, würde das womöglich niemandem auffallen, denkt sie, aber noch immer will sie freiweg plappern wie einst und gerät nicht nur sprachmotorisch schwer ins Stolpern. Zwar hatte sie auch früher schon mitunter als große Schweigerin gegolten. Es war ihr immer dann schwergefallen, in größeren Gruppen zu reden, wenn das, was sie zu sagen hatte, ihr allenfalls wie eine Wiederholung von Altbekanntem vorgekommen war. Lediglich, wenn sich ein in ihrem Kopf als taufrisch bewerteter Gedanke gezeigt hatte, hatte sie zu reden begonnen. Zudem galt sie in Gruppeninteraktionen als harmonisierend, zusammenfassend und klärend, und sie hatte oft gar nicht verstehen können, wie häufig sich die anderen Gruppenmitglieder wiederholten, offenbar ohne es zu merken. Daraus hatte sie mit den Jahren begriffen, dass sie tatsächlich das Sprechen der anderen von diesen abweichend wahrnahm: Sie strukturierte es, ihr Unbewusstes setzte es in größere Zusammenhänge, und so schwieg sie, bis sich ein Knotenpunkt offenbarte, an dem etwas Neues möglich wurde.
Aber es hatte zudem sehr intime, private Momente gegeben, in denen sie frei von der Leber weg losgelegt hatte, es war ihr ein Leichtes gewesen, spontan in gereimter Rede, mit exaktem Versmaß, zu sprechen, sie hatte Witze am laufenden Band zum Besten gegeben, sie hatte Worte und ganze Sätze im Kopf von hinten nach vorn» vorlesen «können:
etllow run eis eiw
Das hatte ihr Bewunderung eingetragen, deren Gründe sie zuerst gar nicht hatte einordnen können, so selbstverständlich war ihr vorgekommen, dass sie das konnte.
Nichts davon geht mehr.
(Zur Beruhigung flüstert sie sich manchmal ein, dass so ein Gehirnchen, wenn es zerschnitten wurde, erst einmal fertig werden muss mit dem Schrecken. Dass es sich später, viel später erst zeigen wird, welche Funktionen unter den lebenswichtigen, die es ja unzweifelhaft wiederaufzunehmen bereit ist, versteckt sind und sich vielleicht eines schönen Tages erst einmal faul räkeln werden, ehe sie hervorkommen …)
Der Arzt scheint ihren Gedankenlauf durch den Hindernisparcours zu ahnen, er bietet an.
Sie haben eine Epilepsie? Ergenyl ist eigentlich nicht schlecht verträglich, was nehmen Sie denn stattdessen?
Nichts
, antwortet sie dankbar und leichthin, und der Arzt hat verstanden. Sagt nichts. Hält sie vielleicht für nicht zurechnungsfähig? Sie sieht, wie es hinter der Stirn arbeitet. Er lässt sie die Hand öffnen, knotet den Stauschlauch auf, zieht die Kanüle, aber sagt nichts mehr.
Am Nachmittag wird sie zur Stationsleitung gebeten. Drei Ärzte, zwei Schwestern haben sich eingefunden. Das Gespräch ist ähnlich geladen wie jenes zur Psychologie, die sie abgewählt hatte. Sie könne doch nicht einfach. Sie dürfe das nicht. Was verordnet ist. Ist verordnet. Sie alle hätten sich doch was. Dabei gedacht. Im Gegensatz zu ihr. Sie müsse. Zurückstecken. Die Verantwortung trügen sie. Nicht Helene.
Was, ich trage keine Verantwortung?
Da sind sie doch verblüfft, über den aufbrausenden Ton der bis dahin kläglich schweigenden Helene. Die fragt sich, und sie spürt genau die einschießende Beunruhigung, ob die Ärzte die Speichelblasen gesehen haben, die sich an ihrem Mund bildeten, während sie diesen einen Satz sagte. Sie schaut sie an, aber nichts in den Gesichtern deutet darauf hin. Womöglich sind sie so schnell zerplatzt, dass sie nicht wahrgenommen wurden. Wie erginge es ihr, wenn sich am Mund eines Gegenübers Speichelblasen beim Reden zeigten? Wahrscheinlich würde auch Helene sie gar nicht bemerken. Die Beunruhigung verzieht sich nun ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war. Das ist neu. Sie möchte mehr davon erfahren, wie sie auf andere wirkt. Nehmen sie sie als geistig beeinträchtigt wahr? Als behindert? Wundern würde es sie nicht, sie kann so oft ihre ersten Reaktionen nicht kontrollieren, ärgert sich noch immer maßlos über spontanes Grinsen, Lächeln, Mundverziehen, über Jaja und Neinnein …
Und da ist sie auch sofort wieder, die Beunruhigung.
Helene hat gar nicht zugehört, was die Ärzte auf ihren Satz antworteten, fällt ihr auf. Die Beunruhigung verdoppelt sich auf der Stelle. Sie ist ein abgehängter Karren, der ohne Pferd seine Richtung nicht findet. Nicht einmal dessen» Räder «scheinen sich auf einen Kurs einigen zu können: Sie fühlt Arme und Beine in stetem Widerstreit. Beunruhigung verdreifacht.
Haben Sie nicht auch schon daran gedacht, sich einem Betreuungsverfahren zu unterziehen, Frau Wesendahl? Zum Beispiel könnte Ihr Mann vorübergehend zum Betreuer bestellt werden, da bräuchten Sie sich erst einmal um nichts mehr zu kümmern …
Ach, was reden die da, da hört sie doch gar nicht mehr hin, das wird ihr jetzt aber zu viel, die Kapazität, denkt sie, mit Matthes wollte sie über die Kapazität reden und nicht über ein — Betreuungsverfahren? Das will sie gar nicht wissen, das schiebt sie jetzt erst einmal irgendwo in ein bereitstehendes Schubfach. Lade zu. So.
Die Stimmung kippt. Freundlich werden die Leute! Wo nehmen die das jetzt her? Ihr ungläubiger Blick wendet sich ins Misstrauische. Hab acht, sagt ihr Bauch, da ist was im Busche, da rollt was an, was du nicht übersiehst, was dir aber gewaltige Bauchschmerzen verursachen kann, wenn du nicht aufpasst. Was ist das nur?

Heute gab es Räucherfisch zum Abendbrot. Gewaltige Bauchschmerzen. Helene spürt den Schmerz vor allem im Oberbauch, einen wohlbekannten Druck, der sie seit der Lottchenschwangerschaft in Ruhe gelassen hat. Die Galle. Nur gut, dass die auch noch da ist, denkt sie spöttisch, verzieht aber gequält das Gesicht. Mist. Als ob es der Galle aber auch nicht reiche, was mit ihrem Körper alles geschehen ist in den letzten Monaten! Sie drückt, massiert die Gallengegend, aber der Schmerz flieht geradezu vor ihren Fingern in unzugängliche Regionen und wird stärker. Jetzt ist er im Rücken zugange.
Aber
reicht
es der Galle nicht eigentlich? Der Fisch hat ihr doch gereicht, sie hat darauf reagiert und ist dabei, eine Kolik zu entwickeln!
Was ist
reichen
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