
Die dritte Schule hielt Selektion an sich für etwas, das weder adaptive noch exaptive Komplexität mit Notwendigkeit hervorbrachte, ja für ein im Grunde marginales Phänomen. Ihre Vertreter glaubten, ein paar basale computationale Prinzipien, besonders im Bereich einfacher Automaten, entdeckt zu haben, nach denen aus bestimmten Grundregeln der Reproduktion zwangsläufig bestimmte hochorganisierte Komplexitätsformen entspringen mußten.
Der Ursprung der Sezession der dritten Schule vom darwinistischen Hauptstrom der Entwicklungslehre hatte mit Muschelformen zu tun.
Ein kluger Vertreter einer der ersten beiden Schulen hatte mathematisch zu demonstrieren versucht, daß es zwar Tausende potentieller Muschelformen gab, aber nur sechs davon tatsächlich vorkamen, ein Beweis, so glaubte er, für die Macht der Selektion. Darauf hatte ein anderer Mensch, nämlich der Hauptbegründer der späteren dritten Schule, mit einer anderen mathematischen, an primitiven elektronischen Computern durchgerechneten Demonstration geantwortet, deren Ergebnis lautete: Der Kollege hat einen Fehler gemacht, es gibt tatsächlich nur sechs wirklich mögliche Formen, und alle existieren in der Natur.
Man braucht also, so das hieran anschließende Argument, die Zusatzannahmen der Selektionslogik nicht, um im Laufe eines Entwicklungsgangs bei den robusten Bauplänen anzukommen, die bekannt sind. Organismen, so die dritte Schule, entwickeln sich seitwärts, vorwärts, rückwärts, um alle möglichen Gestalten anzunehmen, die nach den Regeln der Automaten überhaupt in Frage kommen, deren Konkretion sie sind.

Gilt das, was die dritte Schule lehrt, auch für meinen Weg in die Burg?
Ist der so eine Form, so ein Muster?
Padmasambhava beschloß, sich auf diese Debatte nicht einzulassen.
Zwei der neun Flugmaschinen feuerten weiterhin in die Ebene, um nunmehr nachdrängende Kriegerinnen und Krieger abzuhalten, während eine dritte Maschine sich jetzt, leicht schwankend, wie eine große Himmelsschaukel vor der kleinen roten Echse im Sand niederließ, ihr Maul öffnete und mit Lichtern blinkte, die der Überlebenden bedeuteten, sie sei innen willkommen.
Padmasambhava nahm die Einladung an.
XII. IM GROSSEN FISCH ZUR SCHLECHTEN STADT
1. Zagreus
Auf dem weiten Weg zur Maschine mit den Stielaugen stießen immer wieder Salamander und Freunde mit Fell zu Feuer, nur um sofort wieder in alle Richtungen davonzueilen oder zurückzufallen, nach einem offenbar längst vereinbarten Plan:»Wir legen Spuren, wir spalten den Weg.«
Der Prinz machte sich verdrossene Gedanken darüber, was die Verfolger ihm antun konnten. Er wußte zwar, wie schwer es war, ihn zu verwunden, und hatte nicht vergessen, wie schwer er zu halten war, wenn man ihn fing. Aber nichts davon war geeignet, ihn zu beruhigen oder zu trösten: Er dachte daran, daß sie ihn rösten würden, bis er schrie; daß sie ihm Knochen brechen oder Körperteile abtrennen konnten, selbst den Kopf, und er ging nicht davon aus, daß er das überleben würde.
Vor allem aber hatte er gesehen, was sie mit Lebendigem, das Sprache hatte, anstellten: Sie waren imstande, es zuzurichten, wie die Freunde und der Vasch die vernunftlosen Tiere zurichteten, die sie aßen.
Aus etwas, das denkt, etwas machen, das nur noch ein Ding ist, und ein kaputtes dazu: Das ging.
Felsen, Sterne, Lebewesen: Er erinnerte sich dunkel, wie er sie vor ein paar Stunden aus überfließender Seele geliebt hatte, seine ganze Heimat, und ihm wurde klar, daß sie ihm nicht mehr sicher schien.
«Wohin gehen wir?«
«Wart's ab. Red nicht soviel. Spar deine Kräfte.«

Die Maschine lebte in einer lehmverschmierten Beule, die Feuer ungern» Hütte «hätte nennen wollen.
Der Apparat winkte den letzten bei Feuer verbliebenen Freund mit eiligen Gebärden herein und bedeutete den beiden, sie sollten sich vom Tisch was nehmen: Gräser, Trauben, Wasser,»Trinken und Essen, ich selbst werde packen — mich und was wir sonst brauchen«.
«Was heißt wir, wie kannst denn du mir helfen«, fragte Feuer trotzig,»und wohin soll's gehen? Wenn sie von Niobe kommen, dann reicht ihr Arm weit. Wo sollen wir uns verstecken? He, Maschine, ich rede mit dir.«
Die Maschine fummelte an sperrigen Gerätschaften und» packte«, das heißt, sie griff sich aus staubigen Metallregalen Zeug, dessen Zweck Feuer nicht erraten konnte. Den Kram klemmte der Apparat sich in dafür offenbar vorgesehene Ritzen, Zwischenräume, Halterungen am eigenen Gestellrahmen. Eins seiner gläsernen Augen glitt jetzt von dieser Beschäftigung weg, wandte sich Feuer zu, maß ihn, wackelte auf tänzelnder Stielschlange, dann sagte die Maschinenstimme:»Wenn du mit mir reden willst, Junge, sprich mich ordentlich an. Ich heiße nicht ›Maschine‹, ich heiße Zagreus.«
«Zagreus, von mir aus. Wohin gehen wir drei also?«
«Dein Freund, der Neudachs, bleibt hier. Er wird mein Observatorium hüten, meine Taster und Fernsonden, um den Verlauf des Überfalls zu beobachten und die Folgen abzuschätzen. Du und ich, wir klettern hinter den zwei letzten Vulkanen im Süden deiner… Heimat nach unten, bis wir die schmale Ebene erreichen. Dort werden wir abgeholt und dem Zugriff deiner Feinde enthoben. Da klär' ich dich ein bißchen auf, und dann suchst du den Tempel an den beiden einzigen Orten, die wir nicht hinreichend erforscht haben. Wobei ich's sowieso für Unfug gehalten habe, dir die Kundschafterarbeit abzunehmen, wie die Neudachse das immer wollten. Die dachten«, drei Stielaugen musterten abschätzig den Freund mit Fell, der sich im dunkelsten Winkel der Hütte herumdrückte,»wir bräuchten dich, wenn wir den Tempel selber finden, nur noch auf den Ort zu richten und dann… den Abzug ziehen, wie bei einer geladenen Schußwaffe, vorausgesetzt, die Zeit ist gekommen. Was ja jetzt der Fall…«
Der Prinz hustete trocken und sagte:»Dieser ganze Blödsinn ist mir…«, diesmal war's der Freund mit Fell, der Feuer das Wort abschnitt, während er, schluckend und kauend, Instrumente an einer Wandpaneele betrachtete:»Der Bunker ist weg. Sie haben ihn gesprengt, jetzt schwärmen sie aus.«
«Wie lange?«fragte die Maschine.
«Wie lange was?«wagte Feuer einen letzten Versuch, sich in das für ihn immer unverständlichere Geschehen einzumischen.
«Wie lange es dauert, bis sie hier sind. Das will ich wissen«, sagte Zagreus — nicht zu Feuer, sondern zu dem Wesen, das er einen» Neudachs «nannte.
«Halbe Stunde. Höchstens vierzig Minuten.«
Spillerige Finger griffen Feuer am Arm, der eben Zeit gehabt hatte, sich ein paar gebratene Großgrasblätter in den Mund zu schieben und nach einem der Gurte mit Wasserflaschen dran zu greifen. Schon zog Zagreus ihn aus der geduckten Behausung, während er den zurückbleibenden letzten Freund, den Feuer auf der Welt zu haben glaubte, barsch anfuhr:»Du weißt, wie man die Fliegerabwehrwaffen abfeuert? Auf jeder Seite der Hütte ist eine, unter einer Klappe im Boden. Du aktivierst sie, indem du neben dem Bett…«
«Ich kenn's. Und wenn ich keine Munition mehr habe, jage ich den Schuppen in die Luft, nach Protokoll.«
Feuer ahnte, daß etwas in dieser Art vielleicht auch mit seinem Zuhause geschehen war.
Das Durcheinander aus Armen, Beinen, Rückgrat, Greifern, Stacheln und Augen auf Schlangen, gruppiert um ein undurchsichtiges, knollig haariges, nach dem rhythmischen Wechsel von Ausdehnung und Zusammenziehen zu urteilen offenbar atmendes Zentrum, zog Feuer von der Hütte weg hinter sich her.
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