«Kommen Sie rüber in mein Büro«, sagte Souad gerade und wies in Richtung der Waschanlage.»Aber nicht morgen — übermorgen um fünf.«
«Keineswegs werde ich das tun«, antwortete Wittekind. Er sprach wie immer lächelnd und tat, als begreife er das Ganze als Spiel. Es sei schwer, bei Souad einen Termin zu bekommen, und er sei davon überzeugt, daß ihnen übermorgen um fünf ein brennendheißes Telephonat dazwischenkommen werde. Es ging um die Nebenkostenabrechnung —»Das dürfte auch Sie interessieren«, sagte Wittekind zu Hans, auf das Selbstverständlichste zum Sie zurückkehrend. Dieser Mann gehörte offenbar zu dem glücklichen Geschlecht, das keine Peinlichkeit kannte. Hier war der nicht so seltene Fall gegeben, daß eine Zurücknahme des Du, mit so leichter Hand bewältigt, eine Entspannung gewährte, die seine Beibehaltung nicht zugelassen hätte. Man konnte Dinge im allgemeinen nicht ungeschehen machen, das hatte Hans mit Schmerzen empfunden, aber wenn man sich zusammentat, konnte man es offenbar doch. Als Zeichen seiner Dankbarkeit setzte er eine geschäftsmäßig teilnehmende Miene auf. Souad sank in Verdrossenheit.
Man hielt es in diesem Haus wie in den meisten anderen Mietshäusern auch: Die Mieter leisteten einen monatlichen Vorschuß auf die Heizungskosten, die Versicherungen und was da sonst noch anfiel — erfahrungsgemäß viel — und erhielten am Jahresende eine Abrechnung über die Verwendung dieser Gelder, und dann war entweder noch zuzuzahlen, oder es mußte von den Vorschüssen etwas zurückerstattet werden.
«Wir warten seit zwei Jahren auf diese Abrechnungen«, sagte Wittekind und fügte scherzend hinzu, daß er vermute, die Verwaltung — das war Souad — hätte sich gewiß gemeldet, wenn sie mit dem Vorschuß nicht ausgekommen wäre —, aber da tiefes Schweigen herrsche, habe er die dringende Vermutung, daß im Gegenteil er etwas herauszubekommen habe. Souad fuhr auf und warf ihm einen anklagenden Blick zu, aber Wittekind gebot mit aufgehobener Hand Schweigen und fuhr fort, daß er um so mehr davon überzeugt sei, hier seien» Vorgänge«, wie er ironisch sagte, liegengeblieben, als auch Herr Sieger schon mehrfach bei ihm geklagt habe, überhaupt noch nie eine Abrechnung von Souad gesehen zu haben. Darauf solle es hier nicht ankommen — wieder erstickte er einen Einwurf Souads —, aber es unterfüttere doch seinen Verdacht.
«Also was machen wir?«Das war so nett und harmlos gefragt, daß Souad auf diesen Ton leicht hätte eingehen können. Statt dessen schwang er sich in die Pose des Strafverteidigers, richtete sich in seinem Klappstuhl auf und rief voller Empörung:»Warum sollte ich so etwas tun? Können Sie mir diese Frage beantworten? Warum?«Zur allgemeinen Überraschung, besonders Souads, ergriff aus ihrer Distanz nun Frau Mahmouni das Wort.
«Warum? Souad, das ist eine sinnlose Frage. Die Frage, warum ein Mensch dieses oder jenes tut, ist meist nicht befriedigend zu beantworten. Nicht einmal Vermögensinteressen geben hier Gewißheit. Oft handeln die Menschen nach ihren Interessen oder ihren vermeintlichen Interessen — sehr oft aber auch nicht. Es gibt für jede Handlung tausend Gründe; hoffnungslos, sie zu erforschen. Und außerdem sind viel mehr Menschen, als man glaubt, verrückt. Manche nur zeitweise, um es noch schwieriger zu machen. Sie werden verrückt, wie sie den Schnupfen bekommen, und werden die Verrücktheit wie den Schnupfen nach einer Weile wieder los. Also kein Warum. Eine ganz andere Frage ist, ob jemand imstande ist, dies oder das zu tun. Diese Frage ist schon sinnvoller. Und wenn ich mich frage, ob Sie imstande sind, Herrn Doktor Wittekind die Abrechnungen zu verweigern, ist die Antwort viel einfacher. Natürlich sind Sie dazu imstande, Souad.«
Sogar Barbara hatte bei dieser kleinen Rede aufgehört zu telephonieren, ihr Vetter freilich nicht, da hätte schon anderes geboten werden müssen. Am meisten wunderte sich Hans aber über Souad. Kein Aufschrei des Protestes von seiner Seite. Er saß brütend da wie ein Frosch, man sah geradezu seine Kehle pumpen. Frau Mahmouni sprach weiter.
«Herr Doktor Wittekind. Ich darf Ihnen mitteilen, daß ich ab heute die Verwaltung dieses Hauses wieder übernehme. Ich war mir mit meinem Mann über verschiedene Fragen nicht einig, aber das ist geklärt.«
«Und ich?«Souad sprach wie vom Donner gerührt, ungewohnt ausdruckslos, ja verhalten.
«Sie machen weiter die Waschanlage«, befahl Frau Mahmouni,»aber nur noch für zwei Monate. Es wird bald schon gar keine Waschanlage mehr geben. Die Waschanlage wird verschwinden. Dort drüben zieht ein großer pakistanischer Baumwollimport ein, der Kontrakt ist heute unterschrieben. Danach übernehmen Sie den ›Habsburger Hof‹. Mein Mann und ich haben uns entschlossen, unsere Interessen hier auf diesen Platz zu konzentrieren, um den Immobilienbesitz zu arrondieren.«
«Es ist auch von mir was drin, Souad«, zwitscherte Barbara. Souads langen leeren Blick hielt sie ohne Mühe aus.»Man muß bei Immobilien immer alles gut bedenken«, sagte sie in dem Bemühen, ihn an ihrer Zufriedenheit teilnehmen zu lassen,»eine gute Anlage ist halt immer viel Arbeit.«
Wer glaubte, nach solchen Eröffnungen werde der Kreis schnell auseinanderfliegen, hatte sich getäuscht. Vielleicht war es nur die nächtliche Hitze, die jeden von einer unnötigen Bewegung abhielt, bis auf den Äthiopier, dem sie nichts antat und der mit flinkem Blick darauf achtete, daß jeder eine Flasche hatte, jeder eine andere, wohlgemerkt. Die Unterhaltung floß leise dahin. Es war, als sei man dankbar, die neue Normalität gemeinsam einüben zu dürfen.
Plötzlich neigte Souad sich zu Hans und sagte mit hinaufweisendem Kopfnicken:»Deine Frau steht die ganze Zeit da am Fenster und schaut zu uns herab.«
Ina hatte tatsächlich die von ihr angerichtete Unordnung, die sie nicht mehr zu beherrschen vermochte, verlassen und war die Treppe hinabgestiegen. Beim letzten Fenster des Treppenhauses, unmittelbar über der Gesellschaft, blieb sie stehen, an den Rahmen gelehnt und die Leute dicht unter sich betrachtend. Von den Gesprächen drang manches zu ihr hinauf, wenngleich nicht alles. Eben hörte sie Wittekind mit leicht erhobener Stimme sagen:»Aber es kommt doch gar nicht darauf an, glücklich zu sein.«
«Worauf kommt es denn an?«fragte Barbara, aber von der Antwort bekam Ina wieder nichts mit, nur von der Zustimmung, die sie fand.
«Genau, genau«, rief Barbara und wandte sich sogar an den Vetter, der gleichfalls, aber widerwillig, wie Ina vorkam, nickte. Jetzt fuhr ein Taxi vor die Hofeinfahrt, der Türke stieg aus, im Fond blieb ein unerhört massiger Mann sitzen. Frau Mahmouni erhob sich behutsam und nahm den Arm des türkischen Fahrers. Ina löste sich vom Fenster und stieg langsam, aber ohne Zögern die Treppe hinab, gerade als Souad auf sie aufmerksam geworden war. Sie erschien im Türrahmen. Die Gesellschaft saß im Schein der Bogenlampen vor ihr und sah zu ihr hinüber. Wie es gelegentlich selbst in angeregter Runde geschieht, schwiegen gerade alle für einen Augenblick. Ina kam auf sie zu. Nur Hans wußte, daß sie verändert aussah, mit ungekämmtem Haar verließ sie sonst niemals die Wohnung.
Zielsicher ging sie auf Wittekind zu, erwiderte seinen Gruß nicht, bückte sich nach der Bierflasche, wandte sich zu Hans und schlug ihm die Flasche mit einer weiten Bewegung auf den Kopf. Die Flasche zerbrach. Ina stand still da mit dem gezackten Hals in der Hand. Hans bewegte sich nicht. Blut quoll aus seiner Stirn und lief ihm in die Augen. Es rührte sich keine Hand in der verzauberten Stille. Ina stand mit geschlossenen Augen. Sie wartete. Irgend etwas, das wußte sie, würde geschehen.
Frau von Klein pflegte so viele Bekanntschaften, daß sie, wie viele Leute ihres Milieus, die Gewohnheit angenommen hatte, zu Weihnachten Rundbriefe zu verschicken, in denen sie von den Ereignissen des Jahres berichtete. Sie wußte selber, daß niemand solche Berichte wirklich las, sie überflog dergleichen nur, aber sie fand die Sitte mit den Rundbriefen eine Weile recht vorteilhaft. Wer aus ihren Briefen etwas Handfestes erfahren wollte, mußte freilich die Kunst beherrschen, zwischen den Zeilen zu lesen, wie die Bürger in Diktaturen lernen, den phantastischen Nachrichten der gelenkten Presse dennoch Realitäten zu entnehmen. So erlaubten die wenigen Worte, die Frau von Klein in ihrem letztjährigen Rundbrief dem Leben ihrer Tochter widmete, zumindest eine Ahnung, wie es Ina und Hans nach den hier geschilderten Ereignissen weiter ergangen sein mag.
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