Ina stand sofort auf und holte das Glas aus der Küche. Auf dem Schreibtisch mit den Säulenbeinen leerte sie die Münzen aus. Sieger hatte sich erhoben und sah auf den staubigen Haufen. Mit den Fingerspitzen schob er die Münzen auseinander, bis keine mehr auf der anderen lag.
«Es ist eine Enttäuschung«, sagte er leise, fuhr dann aber mit einem Eifer fort, als müsse er sich selbst überreden:»Ja, es ist mehr: das Ende der Täuschung. Ich habe mich in meiner Nachtstunde nur allzu gern von der Täuschung umarmen lassen, aber der Tag läßt dies Gespenst zerflattern. Ich bin Ihnen unendlich dankbar, daß Sie mir Gewißheit in dieser Frage verschafft haben«— wenn er die Wahrheit gesprochen habe, als er ihr seine Willens- und Absichtslosigkeit gestand — und er sei davon überzeugt —, dann dürfe er jetzt nicht betrübt sein. Ein bestimmter Weg, der sich als Möglichkeit auftat, sei verschlossen. Es sei der nicht ihm bestimmte Weg. Mit solchen Reden wiegte und schob er sich dem Korridor entgegen. Er verließ Ina, indem er sie zärtlich, wie ihr vorkam, aus seinen kleinen Augen ansah. Sie stellte sich vor, daß in seinem Leib eine kleine hochbewegliche Seele wie ein Flaschenteufelchen eingesperrt war, die zwischen seinen Füßen und dem Kopf auf den sanftesten Druck hin auf- und abtanzte.
Als Ina allein war, ging sie nachdenklich im Korridor spazieren. War es nicht ein Zeichen, daß im abgesteckten Kreis dieser Wohnung nun schon wieder etwas nicht an dem Platz gewesen war, an dem es mit Sicherheit vermutet wurde? Sie staunte, wie gefaßt Sieger das Verschwinden des Ringes aufgenommen hatte, als wäre seine Wiederauffindung so bedeutsam auch nicht gewesen. In träumerischen Gedanken legte sie sich auf das Sopha und ließ den Besuch des Hausbesitzers an sich vorbeiziehen. Er war ein Liebender, daran bestand für sie kein Zweifel, und indem sie das dachte, stiegen ihr wieder Tränen in die Augen, aber diesmal nicht heftig quellend, ja geradezu spritzend wie beim letzten Mal, sondern als milde, große Tropfen, die eine Weile in ihren schönen Wimpern hängenblieben und dann über Schläfen und Wangen hinabrannen. Ein tiefes Selbstmitleid erfüllte sie. In welchem Gedicht stand die Zeile:»Was hat man dir, du armes Kind, getan?«Angesichts Siegers Liebe fühlte sie sich unendlich verlassen und zu kurz gekommen. Nie würde sie etwas Ähnliches erleben.
Als sie dann in Schlaf sank, merkte sie eine Weile nicht, daß sie träumte, denn sie durchwanderte auch mit zugefallenen Augen ihre Wohnung, öffnete die Türen und sah in die aufgeräumten Zimmer. Alles, was darin war, erkannte sie als etwas Vertrautes oder gar selber Angeschafftes und selber Aufgestelltes. Auch was Sieger gehörte, wurde jetzt im Traum noch einmal ganz deutlich so benannt. So hübsch und mit leichter Hand dekoriert, wie sie in der Tageswirklichkeit erschien, erlebte sie auch die Wohnung des Traumes. Sie sah die Teppiche und die neuen Fenster, die Souad leider anstelle der Sprossenfenster hatte einsetzen lassen, weil er als Hausmeister ein besonders ernsthaftes Verhältnis zur Heizung unterhielt, vielleicht auch weil sein südliches Herz in Deutschland zu verfroren war.
Warum also war dies ein derart beunruhigender, ja erschreckender Traum? Figuren traten keine auf, es war nur ein Schweifen durch die renovierten Räume. Der Schrecken entstand denn auch nicht durch die Bilder, die der Traum zeigte, als vielmehr durch das Wissen der Schläferin, worum es sich bei diesen Räumen handelte.
In ihrem Schlafzimmer, dem am wenigsten hübschen Zimmer der Wohnung, weil es für ein großes, modernes Ehebett einfach zu klein war, hörte sie, während sie den Traum-Fußboden betrachtete, der sich in nichts von dem realen Boden unterschied, eine Stimme sagen:»Dies ist das Haus des Teufels. «Und augenblicklich war ihr trotz allem Vertrauten, was sie wiedererkannte, klar, daß die Stimme die Wahrheit sprach.
Ja, es sah genauso aus wie in ihrer eigenen Wohnung. Und doch wohnte hier die vollständige Hoffnungslosigkeit. Hier gab es nichts, woran man in Verzweiflung noch hätte appellieren können, nichts, woran man hätte anknüpfen können. Keine Sprache war hier denkbar, mit der man sich hätte verständlich machen können, keine Konvention, keine Regel, keine Dauer. Hier zerfiel jeder Gedanke. Sehen konnte man das nicht. Da gab es nur eine schlecht geschnittene, neu geweißelte Wohnung. Aber einer, der wußte, wer hier wohnte, der erkannte die Leere hinter den hübschen Allerweltszimmern. Und wem die Sinne dafür erst einmal geöffnet waren, der konnte die Gewißheit, es gebe nichts Schreckliches, das in diesen Räumen unmöglich und das dann auch unabwendbar gewesen wäre, niemals wieder vergessen.
Der Neumond näherte sich mit großen Schritten, so schien es jedenfalls dem ungenauen Beobachter, der eben noch das fette Halbmondstück vor Augen hatte und dem allmählichen Schwund der Sichel nicht gefolgt war. Jetzt war sie nur noch so zart, als ob ein stärkerer Windhauch sie hätte ausblasen können. Die Gesellschaft im Hinterhof verließ sich auf das künstliche Weiß der Bogenlampen und schenkte dem dahinschmelzenden Mond keinen Blick. Hans mußte länger im Büro ausharren, danach hatte es sich nicht abwenden lassen, daß er mit einigen jungen Kollegen ein Glas trinken ging, so würde er es Ina sagen, obwohl er das Abwenden solcher gemeinschaftlichen Verhaftungen im Internat und bei den Soldaten eigentlich gelernt hatte. Cliquen, die ihn vereinnahmen wollten, bekamen ihn nicht so leicht zu fassen. Aber jetzt zog es ihn nicht nach Hause. Die Telephonate mit Ina während der Bürozeit klangen unheilvoll. Immer wenn er glaubte, das Dunkel lichte sich, kehrte es noch schwärzer zurück. Und ihm war nun klar, daß er dem nichts entgegenzusetzen hatte, sondern selbst nach Hilfe suchen mußte, um die Veränderung, die sich in ihnen beiden vollzog, überhaupt nur zu verstehen.
«Souad hat schon wieder eine andere«, sagte Barbara, die ihre Löwenmähne neu hatte aufblasen lassen. Sie sah nämlich einem Treffen mit ihrem Mann entgegen, am Flughafen, sie würde sich von ihrem Vetter und einem Anwalt begleiten lassen —»das ist nämlich so einer, der hat immer ein Papier in der Tasche, das er sich plötzlich unterschreiben lassen will, und ich unterschreibe gar nichts mehr …«
«Das jetzt kannst du unterschreiben«, sagte der Vetter, der heute pistaziengrün trug und aus seinem Gram in eine mürrische Bestimmtheit hinübergewechselt war. Er gab sich keinerlei Mühe, seiner Cousine gegenüber den Eindruck des Doppelagenten zu vermeiden. Vielleicht war es ihr sogar recht so. Sie konnte sich das Leben ohne ihren herrschsüchtigen und gewalttätigen Mann immer noch nicht vorstellen.
«Ich habe Souad heute mit einer blondgefärbten, nicht mehr ganz jungen, etwas verlebten Frau«— holla, Barbara, Vorsicht! — »mit großem, ziemlich vulgärem Mund und solchen dicken Augenlidern gesehen — Souad, du wirst bald sechzig, das schaffst du doch alles gar nicht mehr.«
Souad jedoch hatte sich Haltung verordnet. Am liebsten wäre er zum Flughafen mitgefahren.
«Warum zeigen wir deinem Mann nicht schnell den ›Habsburger Hof‹ — das dauert zwanzig Minuten. Man muß gesehen haben, bevor man sich engagiert. Er wird mir dankbar sein, daß ich dich so gut berate, und ich weiß gar nicht, warum ich das tue, denn bei mir bleibt dabei kein Pfennig hängen. «Und er war derart darauf bedacht, gewinnend und beflissen zu erscheinen, daß er sich sogar mit seiner Opfergesinnung aufziehen ließ, und bei Geld verstand er sonst keinen Spaß. Mit veränderter Miene wandte er sich Hans zu, der sich widerstrebend setzte, vom Äthiopier sofort mit einer Bierflasche bedacht, und zwar von der Marke, die er beim ersten Mal bestellt hatte. Der Äthiopier merkte sich so etwas.
«Herr Sieger ist wieder bei euch gewesen«, raunte Souad mit stechendem Blick — es gelang ihm, diese weichen Schokoladenaugen in ihrer Klebrigkeit unversehens hart und klein werden zu lassen,»was will er denn die ganze Zeit? Was sagt er?«
Читать дальше