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Als habe Sieger dies Bekenntnis der Sympathie und des Mitgefühls mitbekommen — nach volkstümlicher Vorstellung klingt es einem in den Ohren, wenn weit entfernt lobend über einen gesprochen wird, und Sieger war von echt elephantenhafter Empfindlichkeit, so daß sich dies Klingen bei ihm am Ende wirklich ereignete —, stand er am anderen Tag wieder vor Inas Tür. Sie sah schon an dem ungeheuren Schatten auf dem Milchglas, wer geklingelt hatte. Wie Siegers Kopf auf den breiten Speck- und Wasserschultern saß, hatte sich ihr eingeprägt. Er war vom Treppensteigen so erschöpft, daß er schweigend und tief atmend vor ihr stand und nur den Zeigefinger hob, als wolle er sagen:»Aufgepaßt! Ich beginne zu sprechen, sowie ich in der Lage dazu bin.«
Er war wieder in weißem Hemd und schwarzer Hose, das schien seine einmal angenommene Tracht, im Winter kam dann wohl die schwarze Anzugsjacke hinzu. Als er eingetreten war und sich niedergelassen hatte, bat er um ein Glas Wasser. Aus einer kleinen Dose nahm er bunte Tabletten und warf sie sich in den geöffneten Mund. Er komme aus einem ihr wahrscheinlich absurd erscheinenden Grund, sagte er in der flehenden Höflichkeit, die ihm eigen war und mit der er Ina für sich eingenommen hatte. Er habe schließlich hier gelebt, zunächst mit seinen Eltern, dann nur mit der Mutter, dann ganz allein — und er bekenne, daß er diesen Tag herbeigesehnt habe —»Ich habe meine Eltern geliebt, und ich war ihr geliebter Sohn, und ich habe sie dennoch in Gedanken ermordet«— nicht anders dürfe man diesen Wunsch, hier einmal ganz allein zu leben, deuten — dies Alleinsein habe schließlich den Tod der Eltern vorausgesetzt — so werde man zum Gedankenmörder. Die bösen Wünsche gingen immer in Erfüllung — wisse sie das?
Ina wußte es nicht, aber es traf sie tief, sie würde sich das merken. Herr Sieger hatte keinen sichtbaren Hals. Das Fett war ihm bis zum Kinn gestiegen, und oben auf dem Schulterplateau rollte sein Köpfchen nun scheinbar lose hin und her. Er verband in seiner Erscheinung seltene Massen mit einer verblüffenden Zerbrechlichkeit. Ina kochte jetzt Tee. Es sei in der Hitze gut, etwas Warmes zu trinken, sagte sie und genoß es, diesem sie anrührenden Mann fürsorglich Belehrendes zu sagen, was sie allerdings nur nachschwatzte. Was bei Hitze gut sei, darüber hatte sie sich wie jeder gesunde junge Mensch noch nie den Kopf zerbrochen. Wenn Herr Sieger Inas schöne Tasse zum Mund hob, verschwand der Henkel vollständig, die Tasse sah aus wie ein Fingerhut.
Die ersehnte Einsamkeit sei ihm gewährt worden, sagte Herr Sieger, aber dann habe er auch den Sog kennengelernt, den diese Leere entwickelte und von dem er sich keine Vorstellung gemacht habe. Und dieser Sog habe eine Frau hier herauf zu ihm getragen. Das sei ein geradezu physikalischer Vorgang gewesen. Sie war älter als er, eine Frau von großen Erfahrungen und scharfsinnig, aber sie mußte unbedingt ihren Willen haben, was ihn aber gar nicht gestört habe, ihm sei es so unwichtig, seinen Willen zu haben, daß er oft daran zweifle, ob er überhaupt einen besitze. Der Gegensatz zwischen ihnen sei stark gewesen. Hier der scharfe Wille, dort vollkommene Willensschlaffheit — so drückte er selbst das aus —, hier die Fähigkeit zu gnadenlosem Haß, dort die Unfähigkeit zum Haß aus der Gleichgültigkeit heraus.»Ich würde nie behaupten, ich sei ein guter Mensch«, sagte Herr Sieger,»was bei mir wie Güte aussieht, ist nur Schwäche. Bei guten Menschen kommt das Gute aus der Stärke.«
Womit aber nicht gesagt werden solle, seine Frau mit ihrer Hassenskraft sei böse gewesen, nein, keinesfalls, nur unerhört verletzbar. Von ihrem ersten Ehemann hatte sie eine Stieftochter, der sie Schlimmes nachsagte —»Sie interessierte sich eben allzu leidenschaftlich für andere Menschen, das war ihr Fehler. Wer so genau hingucken will, muß sich auf das Fürchterlichste gefaßt machen. «Er vergesse nie, wie diese Stieftochter, die weit weg, gar nicht in Deutschland lebe — die es eigentlich schon beinahe gar nicht mehr gebe —, das Verbrechen begangen habe, seiner Frau eine Weihnachtskarte zu schicken, mit vorgedruckten Grüßen. Er habe sie mit dieser Karte in den Händen vorgefunden, und sie habe vor sich hingeflüstert:»Sie soll im Haus des Teufels kochen«, und dabei habe sie mit ihrem brennenden Blick den gedruckten Text studiert, als wolle sie ihn sich für die Ewigkeit ins Hirn prägen.
«Würden Sie sagen, daß Sie nicht zusammengepaßt haben?«fragte Ina, die ihm mit großen Augen lauschte. Was sie bedrückte — benennen hätte sie es ohnehin nicht können — war weggeflogen, während Sieger bei ihr war. Sie fühlte eine innere Saite schwingen, solange sie ihm zuhörte.
«Im Gegenteil«, sagte Sieger, als verrate er ein Geheimnis,»wir haben uns ergänzt. Ein gutes Paar soll zusammen entweder ein großes Ganzes ergeben oder sich gegenseitig aufheben zu Plus-Minus-Null — wie Sie es mathematisch lieber haben, ist Ihre Sache, aber beides ist richtig. Das große, runde Ganze ist für die anderen so undurchdringlich, daß es für die Außenwelt der Null schon nahekommt, die beiden sind für die restliche Gesellschaft nicht existent. Kurze Zeit haben wir das wahrscheinlich sogar erlebt. Ich habe sie gut gekannt, zu gut erkannt — ich habe sie erkannt. Ohne sie wäre ich nicht geworden, was ich jetzt bin. Ohne sie wäre ich nicht …«
Er brach ab, legte den kugelig beweglichen Kopf nicht ohne Mühe in die Säuglingshände — es kam mehr eine Geste dabei heraus als ein wirkliches Bedecken des Gesichtes, denn die Arme waren zu kurz für den dicken Leib —»…oh, wäre ich doch nur nicht«, seufzte er, indem er seinen Fragment gebliebenen Satz in eine neue, trostlose Richtung weiterentwickelte.
Ina verweilte bei dem Gedanken, daß ein so raumbeanspruchender Mensch von sich wünschen konnte, nicht zu sein. Wie verwundert müßte die Erde sein, die seine Last getragen hatte, sollte sein Wunsch in Erfüllung gehen. Es war wohl kaum mehr als ein Gedankenexperiment, zu dem Herr Sieger mit seinem selbstzerstörerischen Seufzer einlud. Nachdem es ihn in seiner Fülle nun einmal gab, werde man ihn sich nie wieder spurlos verschwunden denken können, zu diesem Schluß kam Ina.
Sieger faßte sich und begann wieder zu sprechen. In diesem restlosen Ineinanderaufgehen sei offenbar doch ein Rest übrig geblieben, der keine Entsprechung fand: bei ihr selbstverständlich nur, denn sie war die außergewöhnliche, die nach seinen Worten geradezu überlebensgroße Persönlichkeit. Sie hatte ihm eines Tages den Ehering vor die Füße geworfen. Er habe sich auf den Boden legen müssen, um ihn aufzuheben, aber erst, nachdem sie gegangen sei — er habe sie nicht noch mit dem Anblick einer solchen Geste belasten wollen.
Ina mußte das Schweigen, das sich ausbreitete, schließlich brechen, es ging über ihre Kraft. Sie brachte Zitroneneis aus dem Kühlschrank und hatte das Vergnügen, Herrn Sieger mit einem in seinen Händen winzig wirkenden Löffelchen dies Eis genießerisch löffeln zu sehen. Sie hatte das Richtige getroffen, etwas Süßes. Jetzt konnte man den Gesprächsgegenstand wechseln. Ob sich der Eingang der Miete inzwischen geklärt habe? Geklärt ja, sagte Herr Sieger, aber leider habe er nichts davon erhalten. Souad rücke einfach nichts heraus. Er habe ihn angerufen, aber Souad sei einfach zu abgelenkt.
Ina fragte, ob sie in Zukunft die Miete nicht lieber unmittelbar an Sieger schicken solle. Da wurde er ängstlich und aufgeregt: Nein, keinesfalls. Man solle an solche Dinge nicht rühren. Wenn Souad merke, daß das Geld nicht mehr komme, könne er sehr zornig werden —»und das ist auch für Sie nicht gut«.
Aber da sei etwas anderes, weswegen er sie heute störe, obwohl allein schon dieser Genuß, in der eigenen Wohnung, in der er soviel Schweres erlebt habe, nun ganz entspannt Eis zu essen, diesen Besuch mehr als rechtfertige. Er habe sich vorgenommen, seiner Frau den Ehering zurückzugeben — ohne große Worte. Sie selbst solle entscheiden, wie sie diese Handlung bewerte: als endgültigen Bruch oder als Wiederanknüpfung — beides könne in dieser Gabe gesehen werden, und er selbst werde sie in dieser Vieldeutigkeit auch belassen —»das ist das Ehrlichste so, denn ich weiß tatsächlich nicht, was ich will«. Nur stehe ihm nicht mehr vor Augen, wo er den Ring nach seinem Auszug aus der Wohnung bloß hingetan habe. Lange habe er gesucht, vergeblich. Da sei ihm in der letzten schlaflosen Nacht —»können Sie bei dieser Hitze schlafen?«— plötzlich die Eingebung zuteil geworden, der Ring könne in jenem Glas mit den Reisemünzen sein. Daß dieses Glas immer noch in dieser Wohnung herumstehe, sei an sich schon ein Wunder — warum kein zweites Wunder erwarten? Ob sie gestatte, daß er einmal nachsehe?
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