Das Kissen ist weich, wie Daunen, der Satz ist ihm gleich danach eingefallen, und war das nicht der Refrain von so einem Song, von diesem Dortmunder Typen, der einen auf Tim aus Tim und Struppi machte? Er hat die Augen jetzt wieder geöffnet und gesehen, daß im Fernseher gegenüber vom Bettende lautlos eine Folge der Telenovela läuft, die er die letzten Nachmittage regelmäßig geguckt hat. Gerade ist Marcello in Großaufnahme erschienen, Zoom auf seinen bestürzten Gesichtsausdruck, wahrscheinlich erklingt gerade diese chromatische Synthie-Schicksalsmelodie dazu.
Costin richtet sich kurz auf, sieht, daß die Fernbedienung auf dem Nachttisch liegt, und läßt sich zurück ins Bett fallen. Er blinzelt noch ein paar Minuten auf Roswitha, die mit Pedro streitet, vermutlich wegen seiner Affäre mit Frederica, Roswithas Schwester, mit der er, Pedro, es, als Roswitha im Urlaub war, in deren, Roswithas, Bett getrieben hat, dann schließt Costin die Augen, macht sie noch einmal auf und schaut auf das Fenster über dem Fernseher, durch das das schwächer werdende Licht des Nachmittags dringt, schließt sie wieder, um weiterzuschlafen.
02
Schon seit einer ganzen Weile, keine Ahnung, wie viele Sekunden oder vielleicht sogar Minuten, starrt er auf diese ungeöffnete Coladose auf dem Schreibtisch am Ende des Zimmers. Als Junge hatte er ja mal so eine Phase, zu der Zeit, als er gerade die X-Men -Comics las, wo er tatsächlich — voll beschränkt im nachhinein eigentlich — den Cyclops-Blick geübt hat. Cyclops-Blick: Du starrst auf einen Gegenstand in deiner Umgebung, Obst, Süßes, was zu trinken, keine Ahnung, oder auch so Abbildungen in Katalogen oder im Internet, Zeug, das du gern hättest, Videos, CDs, Kleidung, und du hoffst, daß es zu dir kommt, also auch irgendwie indirekt, daß jemand kommt und es dir gibt, vielleicht als Geschenk.
Er war sich am Ende dieser Phase nie so ganz sicher gewesen — Achtung: oberbeschränkt —, ob er nicht vielleicht tatsächlich diesen Cyclops-Blick besessen hatte. Manchmal hatte er nämlich tatsächlich das, was er sich wünschte, wenig später, ohne daß er es ausdrücklich gesagt hätte, geschenkt bekommen; und dann, einmal, hatte er Tata nach einem Streit sehr lange mit seinem Blick fixiert, und plötzlich — was nur ein Zufall gewesen sein kann, aber trotzdem ziemlich spooky — ist Tata sauübel geworden, und er ist ins Badezimmer gestürzt, um sich zu übergeben.
Costin hatte eigentlich, wenn er es jetzt so bedenkt, die ganze Zeit nicht mehr an den Cyclops-Blick gedacht. Aber dann hatte ihn vor paar Monaten Jessica extremst böse angesehen und, ohne daß er darüber nachgedacht hätte, hatte er, wie aus der Pistole geschossen, gerufen: „Boah! Der Cyclops-Blick! Voll evil!“
Costin stellt sich vor, wie die ungeöffnete Coladose durch das Zimmer über den Teppich zum Bett in seine rechte Hand schwebt.
03
Jetzt kommt gleich Hobbes.
Costin hat mittlerweile ungefähr nach der Hälfte eines Joints ein ganz gutes Gespür dafür, in welchen Comic er gleich eintauchen wird. Als ihm sein Vater, wie er 14 oder 15 war, für zwei Wochen seine Kamera wegnahm, er sich nicht wie gewohnt abends im Bett filmen konnte und deshalb unter Einschlafstörungen litt, hatte Costin die Augen geschlossen und sich vorgestellt, wie er jetzt wohl aus der Perspektive der Kamera an seinem ausgestreckten Arm aussehen würde. Immer öfter hatte er dann aber, kurz vor dem Eindösen, die jeweilige Situation, sich selbst im Bett, in einer Panelabfolge, damals vor allem im Stil der Mangas, die ihm Quirin geliehen hatte, vor Augen gehabt. Auch später hatte er während seiner Zeit mit den PingPongs , immer wenn er sein Handy nicht greifbar hatte, um schnell ein Foto von sich zu schießen — fummel Tasche links, fummel Tasche rechts, Blick rechts, Blick links, Panik —,Comic-Meditation gemacht, wie er es für sich selbst nannte, bei Signierstunden, vor Auftritten, auf der Bühne. Nachts, wenn er wach lag und die Dinge nicht so gut gelaufen waren, hatte er sich manchmal das jeweilige Interview, den Auftritt als Comic vorgestellt — worüber er meistens eingeschlafen war. Eines Tages dann, als er in der Endphase der PingPongs backstage mit Seema einen Joint rauchte, hatte sich plötzlich, zum ersten Mal, soweit er das jetzt beurteilen konnte — stimmte das? — , eine Comic-Meditation von selbst eingestellt, ohne daß er überhaupt an einen Comic gedacht hätte. Seema hatte wie Minnie Maus gesprochen, er selbst war Micky gewesen, und auch die Farben des Backstage-Raums hatten disney -grell zu leuchten begonnen. Wie sich herausstellte, hatte Costins ungewollte Comic-Meditation nichts mit dem Gras, das angeblich, so Seema, von einem Freund aus Basel stammte, oder mit der Situation an sich zu tun gehabt, sondern hing wohl mit einer speziellen chemischen Voraussetzung in Costins Körper zusammen, mit psychischen Faktoren, gekoppelt mit der persönlichen Vorgeschichte und sich daraus ergebenden blablabla, was wußte er schon: Denn nachdem er bei der Pinkelpause auf dem Klo einer Tankstelle einen Joint geraucht hatte, den er über Wylie von dessen Tulpen-Connection Jens bezogen hatte, hatte Costin beim Verlassen des Kabuffs plötzlich ein wohlvertrautes hautenges Kostüm am Körper gefühlt, ein schwarzes Cape flatterte hinter ihm, statt der Sonnenbrille trug er eine Maske mit Fledermausohren, der Tour-, oder besser: jetzt Bat bus stand schon mit laufendem Motor bereit, hinter den Scheiben konnte er Wylie, ne, bullshit: Robin ausmachen, während er noch das Lachen des Tankwarts hinter sich als Joker-Kichern im Ohr hatte — kein Zweifel: Er befand sich im Marvel -Universum.
Hat Costin zu PingPongs -Zeiten sein Gras zuerst über Wylie oder Seema bekommen, so ist Costins Bezugsperson jetzt Dirk, ein Kneipenwirt in Schöneberg, der nur, so er, Dirk, für Freunde etwas besorgt, also auch für Costin, da Dirk Costin als Jessicas Freund kennengelernt hatte, Jessicas Freunde auch Dirks Freunde sind und Costin damit selbst nach der Trennung von Jessica weiterhin zu Dirks Kreis gehörte, einmal dabei, immer dabei, so Dirk.
Die Umrisse der Gegenstände im Hotelzimmer treten jetzt, wie mit schwarzem Filzstift nachgezogen, stärker hervor, färben sich ein, koloriert. Der Sessel ist bereits hellgrün, der Teppich rötet sich gerade. Gleich wird er kommen. Costin spürt, daß sich seine Haare zu Calvin-Zacken aufstellen. Da senkt sich was von der Decke. .
Hobbes: „Hast du mal Zeit?“
Calvin: „Muß bis morgen einen Aufsatz über das Thema ‚Was kann ich tun, damit die Welt schöner wird‘ schreiben. Hab keine Zeit zum Spielen.“
Hobbes: „Ich spiele ja gar nicht. Ich leiste einen wichtigen Beitrag für die Wissenschaft, indem ich unerschrocken ausprobiere, welche Veränderungen der Wahrnehmung sich durch das Kopfüber-vonder-Decke-Herunterhängen ergeben.“
Calvin hängt kopfüber neben Hobbes.
Calvin: „Glaubst du, ich kann die Forschungsergebnisse morgen statt meiner Hausaufgaben präsentieren?“
04
„CO?“
Costin hat sich zu dem Mädchen, das ihn an der Theke angesprochen hat, umgedreht — schwarze Locken, dunkler Teint, Zinken, etwas größer als er selbst, fünf von zehn zu erreichenden Punkten —, festgestellt, daß er es nicht kennt, „Hi“ gesagt und dann wieder weggeschaut. Die Bedienung, die, entsprechend dem Namen der Filiale der Fast-Food-Kette, The Fifties , einen kurzärmeligen rosa Angora-Pulli sowie eine Marilyn-Monroe-Perücke trägt, oder sind das wirklich ihre Haare? — wobei Costin seit Einführung der Kette in Deutschland vor ein paar Jahren da ja echt Zweifel hat, ob überhaupt jemand in den USA oder damals in der BRD so rumgelaufen ist —, hat mit stark sächsischem Akzent „Für hier oder zum Midnähm?“ gefragt.
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