Nach dem Loire-Schloß-Coup, also als er dann reich geworden war, erstarrte seine Mundpartie zusehends, sie gefror. Das war, bitte, mein Eindruck. Der Mund war jetzt eine Wucht, eine pathetische Wucht. Immer begleitet und verstärkt von einem ebenso massiven Pathosblick. Insgesamt eine Dauerdrohgrimasse. Vorher war er doch öfter lustig, manchmal sogar herzlich gewesen. Sogar zu mir.
Daraus schließe ich: Reich sein macht häßlich. Das ist keine moralische, sondern eine ästhetische Erfahrung. Und daß Reichsein unanständig ist, ist auch eine ästhetische Erfahrung. Unanständiges kann vielleicht schön sein. Reichsein gehört nicht zum schönen Unanständigen, sondern zum häßlichen. Reichsein platzt andauernd aus allen Nähten. Sein Zuvielhaben dringt dem Reichen andauernd aus allen Poren. Und aus jedem Wort. Als Diego reich geworden war, kam aus seinem erfrorenen Mund kein Wort so häufig wie das Wort Brüderlichkeit. Der ehedem sportlich Freche und manchmal herzlich Kühne hatte nichts dagegen, finster pastoral zu werden. Er drohte denen, die sich weigerten, in der Brüderlichkeit das globale Heil zu erkennen. Es war, es mußte sein, das ungeheuer angeschwollene Selbstgefühl, das ihn jetzt bedrängte. Er erlebte andauernd nur noch, daß er im Recht war. Mehr im Recht als jeder andere, den er kannte. Das war die Wirkung seines Reichseins. Sein Reichsein erlebte er dann nicht mehr als Reichsein, sondern als Erfolg. Und sein Erfolg kam nicht von seinem Reichsein, sondern von ihm selbst. Das heißt, sein Rechthaben war nicht mehr zurückzuführen auf seinen Erfolg oder auf sein Reichsein, sondern ganz allein auf ihn selbst. Er, er, er selbst war im Recht. Er war das ungeheure Selbst. Das Selbst aller Selbste. Er war das Selbst selbst. Und daß ihr alle um ihn herumsitzt und ihn feiert und verehrt, gibt ihm recht. Das ist der Feudalismus von heute.
Seit mindestens zweitausend Jahren wird die Geisteskraft der Besten verbraucht zur Propagierung dessen, was wir nicht sind, aber sein sollen, dieses Lügengewebe soll uns uns selber bis zur Unfühlbarkeit entfremden. Beispiel Calvin: … reich sind wir, sofern wir dienen können und andere uns brauchen … Das ist Dein Diego, der Propagandist der Brüderlichkeit.
Verzeih mir, lieber Karl, das habe ich nicht gewollt. Du kennst Deinen Diego. Ich kenne meinen beziehungsweise keinen Diego. Es gibt keinen Diego. Es gibt nur Menschen. Und die sind so. Jetzt kann ich einen Satz nicht zurückhalten, einen Satz, dessen Richtigkeit ich zum Glück durch nichts beweisen kann, einen Satz, den ich nur Dir, lieber Karl, sagen kann, verzeih. Der Satz heißt: Reichsein macht böse. Vergiß es. Reichsein ist böse. Vergiß, vergiß, vergiß. Bedenk, ich bin am Ende.
Aber den Vorfahr, unseren Großvater, den wilhelminischen Beamten, den bin ich Dir noch schuldig. Als ich mich wegen unserer Herkunft mit Wilhelm II. beschäftigte, ist mir öfter Diego eingefallen. Und von Wilhelm zwei zu seinem Vetter Ludwig zwei ist es nicht weit. Daß Diegos Ironien über seine eigene Hofhaltung in seinem Neuschwansteinchen nicht ernst zu nehmen sind, darfst Du Dir als Freund nicht gestehen. Eine Frau, die Ludwig und Wilhelm erlebt hat, war von der Ähnlichkeit der beiden «schmerzlich berührt», «dieselbe einstudierte Pose des Kopfes», dieselbe «affektierte Würde», aber das Bemerkenswerte, das auf uns Anwendbare: Keiner und keine hat dem Ludwig oder dem Wilhelm gesagt, wie komisch das wirkte. Und das geblendete Volk seufzte im Chor: Jeder Zoll ein König. Mit welcher Lust beide ihre Diener gequält haben, ist bekannt. Und ich habe erfahren, wie bedrohlich finster Diego werden kann, wenn man einen Vorschlag von ihm nicht für ausgezeichnet hält. Wie er einen da anschaut, wäre zu Ludwigs und Wilhelms Zeiten einer Verbannung vom Hof gleichgekommen. Ludwig befahl, seinen Finanzminister zu blenden, weil der sich weigerte, ihm weitere zwanzig Millionen für sein Neuschwanstein zu bewilligen. Bekanntlich wollte er Richard Wagner zu seinem Finanzminister machen. Ich schweife aus, nicht ab. In unserer Gegenwart lebt viel mehr ungenierte Vergangenheit, als wir wissen, weil wir von der Vergangenheit keine Ahnung mehr haben. Vielleicht bin ich eifersüchtig, weil Diego Dich nicht nur wahr-, sondern eingenommen hat.
Gestern bin ich noch einmal im Englischen Garten herumgetorkelt. Ich habe vielleicht dem Schicksal eine Chance geben wollen. Eine Frau in meinem Alter, die gemerkt hat, was mit mir los ist, hat sich neben mich gestellt und hat, ohne mich anzuschauen, gesagt: Wissen S’, die Jahre vor achtzig sind die schönsten. Jetzt isses nix mehr. Der Mo tot. Hören tut man nimmer gscheit. Schlofn is a nix mehr. Aber bis achtzig war das Leben schön.
Lieber Karl, Du findest hier Papiere, auf denen ich festgehalten habe, was über unseren Großvater herauszubringen war. Viel ist es nicht. Die DDR hat gründlich aufgeräumt mit der Geschichte, die die unsere war. Es ist Wichtigeres zerstört worden. Sebastopol zum Beispiel. Aber selbst wenn ich mit Márfa leben dürfte, es wäre für sie nichts mehr wert. Ich wäre für sie nichts mehr wert. Zum Glück habe ich vor zwanzig Jahren die Pistole in Wolfersreut wieder geholt. Der Bauer lebte noch. Die Pistole hat er gut behandelt.
Ich liebe Dich, lieber Karl, auf eine unausdrückbare Weise. Du warst immer das Nächste, was ich hatte. Nur Dir kann ich sagen, Márfa sieht aus wie eine Blume, die auf dürrem Boden gewachsen ist und das ganz vergessen läßt. Ich kann nicht aufhören, von ihr zu reden. Und muß, um von ihr reden zu können, durch die ganze Welt hindurchreden, die im Weg steht. Ich bin mit Lotte verheiratet. Jedes Wort über Márfa ist ein Stich in Lottes Herz. Márfa ist mein Leben, darum ist sie mein Tod. Ich bin dran jetzt. Mir ist auf dem Kopfe das letzte Moos gewachsen. Mein Atem erreicht meine Lippen kaum noch. Stille, Leere, Ausgeräumtheit. Möchte fort sein von mir und lasse mich nicht gehen. Ich hänge an mir. Ich habe nicht nur eine Orgel gebaut, sondern auch Uhren. Für Kirchtürme sogar. Und träumte vorgestern nacht, daß ich nach einer Uhr greife, habe sie in der Hand, spüre, daß sie nicht mehr fest ist, also Vorsicht, es darf sich in ihr nichts verschieben, sonst bring ich sie nicht mehr zum Gehen, und das muß ich, aber so vorsichtig ich bin, gleich verschieben sich Teile gegeneinander, gleich ist die Uhr ein Haufen Teilchen, und eine zweite dieser Art werde ich nicht kriegen. Ich bin aber im Meer geschwommen und hatte die Uhr am Handgelenk. Darum ist sie jetzt aufgeweicht und kaputt. Und eine Frau schält sich am Strand aus dem Sand, sieht eckig aus, ihr Gesicht aber, sobald ich ihr von der Nähe ins Gesicht schaue, ihr Gesicht ist eine Steppe im Morgenlicht. Verzeih. Wir finden eine beige Decke. Jetzt schon in einem Zimmer. Da kommt ein Mann, der schiebt eine Hand unter sie, und sofort steht sie auf, sehr eng aneinander gehen sie davon. Und sprechen Russisch. Ich suche im Hotel ein Zimmer für Lotte und für mich. Es ist ein kleines Bett. Wir müssen uns eng aneinander pressen. Um uns herum stehen Figuren aus Gips, Trachtenträger aus Gips. Auf den Köpfen hohe Hut-Aufbauten aus Gips. Eine riesige Frau nähert sich. Ich ihr entgegen. Sie: Frau Bürgermeister will mit Ihnen tanzen. Dreht sich ein bißchen, hinter ihr, klein, fast winzig Márfa. Ich kann nicht tanzen mit ihr, sie ist zu klein. Dann reißt mich die Riesin mit sich fort und schleudert mich herum.
Die Utopie aller Utopien: Von uns sollte nichts bleiben als was wir träumten. Ungedeutet. Unsere Träume sind unser Deutlichstes. Mein letzter Traum, gestern nacht: Mein 80. Geburtstag steht bevor. Eingeladen habe ich Dostojewskij, Hölderlin, Bruckner, Karl May, Nietzsche, Bismarck, Franz Kafka und Sylvia Plath. Franz Kafka hat abgesagt, Sylvia Plath hat weder zu- noch abgesagt. Ich sah einem harmonischen Fest entgegen. Das Fest stand bevor. Kam aber nicht näher. Ein stehengebliebener Film. Atemlos.
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