Sag doch nicht immer Heldenfriedhof, sagte Mildred.
Die Enkel hatten große Augen. Jost sagte, man müsse einen Irrtum nicht lebenslänglich beibehalten.
Einen Irrtum! Da hat er sagen müssen, daß es nicht jedem gegeben sei, die eigene Biographie so zu optimieren, wie es Josts Vater gelungen sei. Zuerst Oberscharführer, dann evangelische Theologie, dann Pfarrer, und als es doch brenzlig zu werden drohte, Pfarrer in Südafrika und eine Schwarze geheiratet.
Folgte ein wüster Streit. Er bestand auf der ihm vorgeworfenen Unbelehrbarkeit. Er hat der Bande ihre Ignoranz nicht erlebbar machen können. Der Geburtstag ist ausgefallen. Er muß fort. Aber er will auch.
Zurück auf den Kissen seines Sessels, ließ er die Finger auf den Lehnen Klavier spielen. Und bat Karl von Kahn um Auskunft.
Karl war vorbereitet. Er hatte die Nenn- und die Kurswerte verglichen, er hätte Summen aufsagen können. Er hätte nicht ohne Zufriedenheit melden können, daß er aus einem Einsatz von nicht ganz einhunderttausend Mark einen Depotwert von fast drei Millionen Euro erwirtschaftet hat. Und das ohne je auch nur einen einzigen Euro in eine Firma investiert zu haben, die mit Waffenproduktion oder — verkauf zu tun gehabt hätte. Rheinmetall, Krauss-Maffei oder gar EADS hatte Karl von Kahn zu meiden. Eine Firma, in der mit Lenkflugkörpersystemen experimentiert wurde, kam nicht in Frage.
Doch der Professor mußte, auch als er saß, noch einmal von der Familienschlacht sprechen. Nach drei Uhr in der Nacht hat Mildred gerufen, daß jetzt Frieden sei zwischen uns. Sie hatte von allen am meisten getrunken. Die Enkel waren schon im Bett. Toleranz, rief sie, Toleranz für alle und alles. Volle Anerkennung einer unbehebbaren Unvereinbarkeit.
Diesem Zapfenstreich sei allerdings noch vorausgegangen ein Themenwechsel, weg vom Krieg, hin zu des Professors Arbeit für die Kraftwerkunion . Jetzt stellte sich heraus, daß die Tochter Mildred als Kind Todesängste ausgestanden hat, wenn der Vater damals beim Abendessen die Unsicherheits-Philosophie der KWU zum besten gab. Was passiert in den ersten zehn Sekunden nach einem Riß der Primärrohrleitung, aufgeteilt in Zehntel- und Hundertstelsekunden? Kommt das Reservekühlwasser überhaupt noch bis an die Brennstäbe? Die Absorberstäbe können die Reaktion bis auf drei Prozent herunterdrücken, wenn sie nicht auch gleich einschmelzen in der ersten Zehntelsekunde, in der das Kühlwasser fehlt. Und drei Prozent von vier Millionen Kilowatt sind noch einhundertzwanzigtausend Kilowatt, eine Wärmemenge, die den Außenbehälter mit einem Fünzigtonnenschub in die Höhe hebt und, je nach Windrichtung und — stärke, eine zwei Kilometer breite und fünfzehn Kilometer lange Todesschneise zieht. Da überlebt nichts. Das rezitierte Mildred wortwörtlich. Das konnte sie auswendig. Was Mildred nicht mitkriegte, ist, daß ihr Vater dafür gearbeitet hat, dieses Szenario zu verhindern. Und es ist verhindert worden. Die Sicherheitsbestimmungen für Atomkraftwerke in Deutschland sind so überkandidelt, daß Export kaum möglich ist. Acht TÜVs! Und die müssen noch mit den Innenministerien korrespondieren. Beschlüsse nur einstimmig. Solange es eine abweichende Meinung gibt, kann, was geschieht, falsch sein. Es war nie etwas falsch. Und jetzt kommt die eigene Tochter und sagt, die Vatergeneration habe ihre Unbelehrbarkeit demonstriert. Zuerst Krieg, dann eine Atomtechnik, die jeden bisherigen Krieg zum Kinderspiel mache. Also was bleibt uns, als uns unvereinbar zu sehen.
Da habe er nur noch sagen können, er hoffe, daß sie und ihre Kinder nicht eines Tages gefragt werden: Warum habt ihr euch jeden Tag sattgegessen, obwohl in jedem Süden andauernd vor Hunger und Elend gestorben wurde.
Dann sei er gegangen. Jetzt sind sie fort. Mühsam gekittete Risse. Die Augen der Enkel beim Abschied blieben groß. Er muß dieses Land verlassen. Er ist diesem Rechtfertigungsdruck nicht gewachsen. Also, Herr von Kahn, verkaufen wir. Ich ermächtige Sie zu einem totalen Leerverkauf.
Karl sagte: Darüber wird zu sprechen sein.
Dieser Jost, sagte der Professor, stammt aus einer reinen Nazisippe. Mein Vater wurde aus dem Amt gejagt. Dem seine Sippe hat Karriere gemacht, hat kassiert.
Das ist, sagte Karl, das Normale. Nazikinder passen schärfer auf.
Ja, sagte der Professor, aber warum auf andere. Ihre Vorfahren haben aufgepaßt, daß ja jeder Nazi sei. Und sie passen jetzt auf, daß ja keiner Nazi sei. Das heißt, es gibt Aufpasserfamilien. Rechthaberfamilien. Ob es sich vererbt oder nur tradiert wird, ist ihm egal. Familien, die jedem System zugehörig sind, ob Demokratie oder Diktatur, sie müssen nie auf sich selber aufpassen, sondern immer auf andere. Es kommt darauf an, zu denen zu gehören, die bestimmen, was gut und was böse ist. Die Relativitätstheorie der Moral muß erst noch geschrieben werden.
Sich zu rechtfertigen, sagte Karl von Kahn, ist genauso töricht, wie andere zur Rechtfertigung zu nötigen. Er fühle sich verpflichtet, dem Herrn Professor zu sagen, daß er selber trainiere, sich nie zu rechtfertigen. Er wisse, daß nichts von dem, was geschieht, zu rechtfertigen ist. Trotzdem gelinge es jedem Unbedarften, ihn in Rechtfertigungsverkrampfungen zu stürzen. Nichts, was geschieht, geschieht ohne Grund. Trotzdem: Nichts ist durch den Grund, aus dem es geschieht, zu rechtfertigen. Bitte, Herr Professor, entschuldigen Sie die unerbetene Aussage. Sie beherrscht mich, weil ich täglich gezwungen werde zu rechtfertigen, was durch mich geschieht. Und Sie haben es doch gesagt: Die Relativitätstheorie der Moral muß erst noch geschrieben werden.
Dann kam Karl von Kahn zur Sache.
Was der Professor in den letzten zwanzig Jahren entwickelt habe, sei ein Wertebauwerk. Und er, Karl von Kahn, habe sich mit viel Freude an der Erschaffung dieses Werks beteiligt. Soll man so etwas, darf man so etwas von einem Stimmungstaifun verwüsten lassen? Die Tochter Mildred wird anrufen oder zurückkommen, sie wird einsehen, daß man über das Leben eines anderen, und sei es der eigene Vater, nicht richten kann wie über ein Strafgesetzbuchdelikt.
Und bat, den Professor zum Essen einladen zu dürfen.
Fraglos essen. Sonst nichts. Über alles andere reden wir später. Nur soviel vorweg: Glattstellung, Gewinnmitnahme und Schluß, das ist nicht Professor Dr. Hartmut Schertenleib. Das spüre ich. Und was ich spüre, das wissen Sie längst, ist immer das, was das Leben will. Ich bin immer auf der Seite des Lebens. Und Sie auch. Und daß Sie desertieren, kann ich nicht hinnehmen. Kommen Sie. Sie und ich bedürfen nicht der Anerkennung anderer, solange wir unser Essen selber bezahlen können, Herr Professor. Nur wenn wir abhängig wären, wären wir verloren. Aber wir, Sie und ich, haben es dahin gebracht, daß wir in diesem Augenblick unabhängig sind. Und das zu empfinden müssen wir lernen. Kommen Sie.
Der Professor bot Karl von Kahn seinen Arm. So gingen sie. Arm in Arm. Der Professor summte, dann sang er sogar. So leise er blieb, das war Gesang. Mehr kann nichts Gesang sein als dieses volltönende Pianissimo des Beinamputierten. Weil es eine von Karls Lieblingsarien war, drückte er den Arm des innig singenden Professors fast heftig an sich. Intonierte dieser alte Trotzkopf doch Nie sollst du mich befragen.
Als Karl von Kahn dann in der Osterwaldstraße die Haustüre hinter sich schloß, rief er, ohne zu wissen, wo Helen gerade war, ob sie ihn also höre oder nicht: Liebling, ich habe einen wunderbaren Beruf. Helen hörte ihn offenbar nicht oder war gar nicht im Haus, also ging er hinauf unter seine honigfarbenen Lärchenbretter und schrieb die nächste Kunden-Post .
Ihm war auf der Rückfahrt von Gräfelfing in der U-Bahn eingefallen, es sei Zeit, in jeder Kunden-Post eine Kolumne zu haben unter dem Titel: Wörterbuch für Anleger. Das war ihm eingefallen, als er das Gespräch mit Professor Schertenleib noch einmal durchging. Ich ermächtige Sie zu einem totalen Leerverkauf, hatte der Professor gesagt. Nach mehr als zwanzigjähriger Anlegepraxis wußte der Professor noch nicht, was ein Leerverkauf ist.
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