Karl würde die Kolumne eröffnen mit Leerverkauf . Und notierte gleich: Man kann ein Wertpapier verkaufen, das man noch nicht besitzt. Das nennt man einen Leerverkauf. Jemand glaubt, am 1. März sei die XY-Aktie 100 Euro wert, ich verkaufe sie ihm jetzt für 70 Euro das Stück. Ich habe diese Aktien nicht, ich glaube aber, die Aktie fällt im Preis und wird kurz vor dem 1. März für 60 Euro pro Stück zu kaufen sein. Abgemacht ist: Der Käufer kriegt von mir Aktien für 70 Euro das Stück, die mich, hoffe ich, 60 Euro das Stück gekostet haben werden. Dieser jetzt vereinbarte Verkauf ist ein Leerverkauf. Leerverkauf wäre auch, wenn man die Aktien, die man verkaufen will, mit geliehenem Geld bezahlt. Shorting heißt es in Amerika. Es gehört nicht zu den geringsten Reizen des Handels mit Wertpapieren, daß man etwas verkaufen kann, das man nicht besitzt. Ein Handel also mit virtuellen Werten.
Er durfte hoffen, der Herr Professor, der die Kunden-Post immer las, werde diese Ausführlichkeit zu schätzen wissen. Und werde bleiben.
Die Enkel kamen ihm so nah, daß sie schielten. Das war der Satz, den Karl nicht loswurde. Seine Enkelinnen Tanja und Sonja hatte er noch nie gesehen.
Helen klopfte an, und Karl dachte wieder einmal, daß er diese am Anfang eingeführte Formalität längst hätte abschaffen müssen. So wie sie sich NWG, die Neue Wohngemeinschaft, genannt hatten, so hatten sie damals, um auszudrücken, wie selbständig jeder weiterhin sei, das Anklopfen eingeführt. Dazu gehörte, daß nicht angeklopft und sofort eingetreten wurde, es wurde gewartet, bis von drinnen ein Ja kam. Aber in diesem Ja konnten Stimmungen ausgedrückt werden. Jetzt zum Beispiel jubelte Karl ein Ja hoch, das Helen signalisierte, wie willkommen, erwartet und herbeigesehnt sie sei. Formalitäten sind eben doch etwas wert.
Das Vergißmeinnichtblaßblau ihrer Augen beschwor das Gundi-Türkis herauf. Gundis Türkis, das reine Eis, Helens Vergißmeinnichtblaßblau, die Wärme selbst. Ihr Blondhaar hatte sie hinten hochgesteckt, daß es frech aussah, und ihre Lippen lagen so aufeinander, daß die Oberlippe besonders deutlich nach links und die Unterlippe nach rechts schaute. So deutlich überkreuz, das hieß, sie war übermütig. Und das hieß bei Helen, Karl durfte sie an der Hand nehmen, sie zu sich herziehen und sein Kinn in ihren Haaren reiben, so fest, wie er wollte.
Sie blieben eine Zeit lang so, dann sagte sie, sie wolle ihm, wenn sie dürfe, vorlesen, was sie heute dem Erfolgreichen Patienten als Schluß entworfen habe.
Karl imitierte die Geste, mit der Professor Schertenleib ihn eingeladen hatte, das Gespräch zu eröffnen. Helen las:
Jeder Körper trachtet nach Unsterblichkeit. Das unüberschaubare Zusammenwirken aller körperlichen Systeme ist daran interessiert, daß es weitergeht. Weil wir vergessen haben, wovon wir bestimmt werden, hat sich die Kulturlegende eingebürgert, der Mensch als geistiges Wesen sei an der Unsterblichkeit interessiert. Dabei ist es der Hort des Lebens, der Körper, der überleben will. Ich rate dir, dich zu vergessen. Selbstbewußtsein ist ein sinnloses Wort. Wenn du immer an etwas denkst, was du nicht bist, wirst du gesund. Am meisten ist das Leben sich selbst überlassen im Schlaf. Deshalb ist der Schlaf das Heilende schlechthin. Wenn wir schlafen, können wir dem Leben nicht dreinpfuschen. Aber es gibt einen Schlaf, in dem die Träume toben. Da setzt sich der Wachzustand in einer übertreibenden Entfesselung fort. Das Wirkliche, unbewacht, gerät außer Rand und Band. In dem Schlaf, der das erleiden muß, ist das Heilende bedroht. Und trotzdem wirkt es noch. Das Toben der Träume drückt aus den Kampf des Schlafes gegen den Einbruch einer nicht mehr zu kontrollierenden Wirklichkeit. Also wollen wir wissen: Wie muß unser Tag verlaufen, daß die Wirklichkeit den Schlaf als Heil und Heilendes gelten lassen muß? Eine Erfahrung, die noch nicht zum Ziel führt, aber doch eine Ahnung stärkt: Wörter meiden, die nicht selbstverständlich sind. In die Sprache sind viele Wörter hineingekommen, die nicht von selber verständlich sind. Zum Beispiel: Angst, Sex, Gott, Bewußtsein, Wahrheit, Ethik, Moral, Freiheit … Mit solchen Wörtern wirst du dir selber gegenüber in eine Stimmung des Nichtgenügens versetzt. Und das Nichtgenügen ist dann der Dirigent aller Träume, in denen der Schlaf seines Heils und seines Heilenden beraubt wird. Ein Schlaf, der nicht gemartert wird von Traumsequenzen des Ungenügens, kann nicht anders, als sein Heil und sein Heilendes zu entfalten. Träumend ist jeder Mensch ein Dichter. Der Dichter hat Erfahrung im Beantworten widrigen Schicksals, aber auch im Aufblühenlassen der Spur des Glücks. Nicht umsonst haben sich sogenannte Traumdeuter zu allen Zeiten hergemacht über die Träume der Menschen und haben den Menschen Ahndungen verpaßt durch die simple Übersetzung des Geträumten in die Wörtersprache, aus der die Träume ihren traurigen Anlaß haben. Tautologie. Vernichtung des gewöhnlichen Dichterischen jeden Traums. Der Traum ist wie jedes dichterische Wort nicht nur ein Geständnis, sondern auch ein Widerspruch. Den unterschlägt der Deuter.
Die Wörter, mit denen dein Nichtgenügen produziert wird, sind selber Ausdruck einer Unmöglichkeit. Es gibt ihnen gegenüber nichts als das Versagen. Das ist beabsichtigt. Wenn du ihnen hörig bist, zahlst du drauf. Mit deinem Schlaf zahlst du drauf. Und bleibst ein Patient. Ein erfolgloser Patient.
Das Leiden ist nicht abzuschaffen, es kann nicht aus der Welt hinausdefiniert werden. Wir bleiben Patienten. Aber nicht Kranke. Das muß jetzt klargeworden sein. Der erfolgreiche Patient sorgt dafür, daß er leidet, ohne krank zu sein. Die Kunst, das Leiden zu genießen, wird ahnbar, wenn wir den unguten Wörtern widerstehen, unsere Hörigkeit kündigen.
Ach, Helen, sagte er und zog sie noch heftiger an sich.
Bevor du mich erstickst, sagte sie, muß ich dir noch sagen, daß ich dich immer noch zu wenig kenne.
Ich fühle mich durchschaut, sagte er.
Er nahm ihren Kopf in seine Hände. Er hatte das Gefühl, er halte den Kopf eines Vogels in seinen Händen.
Das sagte er ihr.
Was für eines Vogels, sagte sie.
Eines Paradiesvogels, sagte er.
Eines Paradiesvogels, sagte sie in einem alles beendenden Ton. Sie verlispelte das dreimal vorkommende S mehr als bei ihr üblich.
Das hieß, es stürmte und drängte in ihr. Auch ihre Augen drückten das aus. Das Vergißmeinnichtblaßblau verfestigte sich zu einem leuchtenden Wegwartenblau.
Ich will ein Kind von dir, sagte sie.
Ich fühle mich geehrt, sagte er, komm.
Frau Lotte rief an. Das war noch nicht alarmierend, weil Erewein Anrufe, die er für nötig hielt, von Frau Lotte erledigen ließ. Auch ihre Stimme war wie immer und paßte deshalb nicht zu dem, was sie sagte. Ein Unglück, sagte sie. Es sei alles schon vorbei. Karl solle jetzt einmal herüberkommen. Er konnte nur sagen: Ja.
Erewein war tot. Das hatte sie nicht aussprechen müssen.
Er ließ das Taxi auf dem Wiener Platz halten. Sich von der Steinstraße allmählich in Haidhausen aufnehmen zu lassen, fand er heute wichtiger als je zuvor. Daß Erewein und Lotte in dem Teil der Steinstraße wohnten, der es dazu gebracht hat, Fußgängerzone zu werden, tat ihm jetzt gut. Die Straße führt am Genoveva-Schauer-Platz entlang, man sieht, sobald man den Platz erreicht, hinüber zu Ereweins barock ummaltem Schaufenster. Heute häuften sich unter dem kleinen Schaufenster Blumen. In der Steinstraße gab es keine Schaufensterödnis wie in der Brienner Straße. Auch auf der mit Kupferblech belegten Fensterbank Blumen. Sträuße und einzelne Blumen, deutlich geordnet. Frau Meschenmoser, dachte Karl. Im Schaufenster immer noch das Bild mit den von hart gleißenden Blättern bewachten Maiglöckchen. Das schräg einfallende Licht sorgte wieder für einen unheimlichen Glanz. Karl hörte, schon bevor er im Flur war, die Orgel. Alle Töne, die angeschlagen wurden, wollten bleiben. Dehnten sich. Mußten aber doch verlassen werden. Dann wieder ein verwirkter Akkord, dann hohe, flüchtige Einzeltöne, die nirgendwohin fanden.
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