Der Großvater ließ seine Schwester wissen, daß er die Furcht des Kaisers vor Ansteckung insbesondere im Halsbereich nicht belächelnswert finde, er sei als Lehrer winters oft genug voller Angst, etwas von einem Schülerhalsweh einzufangen und dann mindestens eine Woche lang an einer eitrigen Mandelentzündung leiden zu müssen. Nur Immunitätsbarbaren könnten über eine solche Empfindlichkeit spotten. Wenn er die Macht hätte, würde er jeden, der hüstelt oder rotzt, sofort der Schule verweisen.
Graf Eulenburg fiel also als Balladensänger aus, der Großvater wurde bestellt. Für alle Fälle, hieß es.
Zu einem Jagdausflug lud der Kaiser immer mindestens zwei Dutzend Gäste, dazu gehörte ein Troß von sechzig oder achtzig Bedienten. Keine der Leidenschaften des Kaisers, das Uniformtragen ausgenommen, dürfte ihn intensiver beherrscht haben als die Leidenschaft, das Wild zu erlegen.
In Rominten sollte diesmal ein Elch zu sehen sein. Als dort alle die ihnen zugewiesenen Quartiere bezogen hatten, brachen die Gäste auf, um den Elch zu sehen. Der Vorfahr durfte mit. Immerhin war er jetzt Herr von Kahn und ein Künstler. Er stand dann am Waldrand in einer langen Reihe von Herren höheren Ranges, stand mehrere Stunden, die Lichtung, in der der Elch auftreten sollte, blieb leer, der Kaiser war enttäuscht. Also zurück ins Jagdhaus. Das lag nun jenseits der Rominte. Der Kaiser hatte dann plötzlich den Einfall zu befehlen, daß man nicht an der Rominte entlang bis zur Brücke gehe, über die man hergekommen war, er befahl, die Rominte zu durchwaten, und tat das selber allen voran. Es war schon Oktober. Es blieb nichts übrig als zu folgen. Drüben der zweite Befehl: Keiner geht auf sein Zimmer und kleidet sich um, alle erscheinen so, wie sie jetzt sind, sofort bei Tisch. Der Kaiser erlebte seine Jagdausflüge und das Abschießen der Hirsche und Hasen auch als Ersatz für Kriegerisches. Er ließ, was er tötete, zählen, wie der Feldherr die toten Soldaten des Feindes zählen läßt. Über fünfzigtausend Hirsche und Hasen sollen es gewesen sein. Einmal hat er dem durch die Treiber gestellten Wild, bevor er abdrückte, zugerufen, was sein großer Vorfahre bei Leuthen seinen Soldaten zugerufen hat: Hunde, wollt ihr ewig leben. Von seinen Jagdgästen erwartete er offenbar, daß sie die Jagdsituationen auch mit solchen Vorstellungen erlebten und bestanden.
Der Großvater versagte. Er hatte keine Angst vor Diphtheritis, aber eben vor eitrigen Mandelentzündungen. Für drei Tage hatte ihn der Rektor des Real-Gymnasiums beurlaubt, aber auch das nicht, ohne ironisch zu fragen, wie hoch sich Herr von Kahn eigentlich noch hinaufsingen wolle. Daß er sich nach dem Jagdausflug noch eine Woche mit Mandelentzündung ins Bett lege, das ging einfach nicht. Also rasch ins Zimmer und wenigstens trockene Socken und Schuhe angezogen, wenn schon die bis übers Knie hinauf nassen Hosen und Unterhosen blieben. Da alle außer ihm den Befehl des Kaisers mannhaft befolgt hatten, war er der letzte, der im Speisesaal erschien. Der Kaiser tat, als bemerke er das nicht. Aber das war das letzte Mal, daß er Friedrich Karl von Kahn bestellt hatte. Vom Grafen Eulenburg ist ein herzlicher Brief an den Großvater überliefert. Seine Majestät reagiere in solchen Situationen immer so lebhaft, wie nur das Genie reagieren könne. Übermäßig! In allem mehr als vorstellbar! Damit sei nun einmal Seine Majestät gesegnet. Manchmal könnten Unverständige meinen: Mehr geschlagen als gesegnet. Aber er, als Kenner, dürfe bezeugen: Gesegnet! Dann noch zum Trost: Seine Majestät befrage sich selber regelmäßig, ob diese und jene jähe Entscheidung Bestand haben solle oder zu revidieren sei.
Diese Entscheidung gehörte offenbar zu den nicht revidierten.
Der Großvater hat nicht gelitten darunter. Und sein Rektor war froh, den tüchtigen Pädagogen und Sänger wieder ganz für seine Schule zu haben. Unser Vater war bei Kriegsausbruch (so nannte man das) neunzehn Jahre alt und einundzwanzig, als er als «Kriegsfreiwilliger» eingezogen wurde, und dreiundzwanzig, als ihm vier Finger der linken Hand von einem Granatsplitter weggerissen wurden. Ich war achtzehn, als ich eingezogen wurde, auch als Freiwilliger. Ein paar Tage bevor ich einundzwanzig wurde, war alles aus.
Ich bin jetzt der Ansicht, daß es ohne den ersten Krieg das, was zum zweiten Krieg führte, nicht gegeben hätte. Weil der zweite Krieg in mein Leben hineingepfuscht hat und ohne den ersten Krieg nicht stattgefunden hätte, hat es mich interessiert, warum Wilhelm II. nicht gehindert werden konnte, dieses Reich in diesen Krieg hineinzuregieren.
Kein Mensch dürfte je begriffen haben, wie Wilhelm sein Kaisersein von Gottes Gnaden empfand und praktizierte. Ein konstitutioneller Monarch zu sein, einem Parlament, einem Kanzler entsprechen zu müssen, eine Verfassung zu respektieren, das blieb ihm fremd. Darüber konnte er, wenn er mit sich allein war, nur lachen.
Wilhelm II., das glaube ich erkannt zu haben, hat alles nur gespielt. Auch den Ernst. Auch den Spaß. Er hat die Krone vom Altar empfangen und seine Legitimität von Gott. Er war kein religiöser Mensch. Er hat den Religiösen gespielt, wie er das Gottesgnadentum und den absoluten Kaiser gespielt hat. Er war geschützt durch einen Wahn, der sich gerade noch so wirklichkeitsgerecht aufführen konnte, daß man dem von ihm Benommenen nicht in den Arm fallen konnte. So wie Don Quijote, als das Mittelalter vorbei war, den mittelalterlichen Ritter mit allem Drum und Dran gab, so gab dieser Wilhelm in einem aufgeklärten Zeitalter den Gottesgnadenkaiser. Nur, Don Quijote tobte sich auf dem Papier aus, Wilhelm im Marmorpalais, im Neuen Palais, im Stadtschloß, im Reichstag und als «Reisekaiser» jedes Jahr an einhundertfünfzig Tagen überall, von den nördlichsten Fjorden bis nach Jerusalem.
Herr Quentz, der Kammerdiener Seiner Majestät, war auch Vorgesetzter der Garderobiers des Kaisers. Er war verantwortlich dafür, daß Seine Majestät in jedem Augenblick jede der über dreihundert Uniformen, die in mehreren Sälen des Neuen Palais in Potsdam gepflegt wurden, abrufen und tragen konnte. Eine Kürassieruniform zum Beispiel bestand aus vierzehn verschiedenen Teilen. Daß Seine Majestät auf Reisen viermal am Tag die Uniform wechselte, muß nicht verwundern, aber auch zu Hause in Potsdam war damit zu rechnen, daß der Kaiser an einem Tag in vier oder fünf verschiedenen Uniformen erscheinen wollte. Das waren die Uniformen der Regimenter, denen der Kaiser mit irgendeinem Rang angehörte. Denen er neue Fahnen oder Kasernen stiftete und dann die jeweils fällige Rede hielt. In einer Extra-Abteilung wurden die ausländischen Uniformen gepflegt. Der Kaiser war vom Oberst bis zum Generalmajor und Feldmarschall Offizier in vierzehn ausländischen Armeen.
Als Rußlands Niederlage im Krieg gegen Japan perfekt war, telegraphierte er dem Zarenvetter «Waidmannsheil für das große Spiel». Der alte Moltke, das Militärgenie des Krieges anno 1870/71, seufzte: «Dekorativ ist die Losung des Tages. Übungen werden zu parademäßigen Theaterstücken.» Der Kaiser spielte dieses Auftrumpfspiel bis zu einem tödlichen Ernst, den zu begreifen ihm seine Benommenheit ersparte. Verantwortlich fühlte er sich, das hat er hörbar genug gesagt, nur dem Allmächtigen, von dem er die Krone empfangen hatte. An den er keine Sekunde lang geglaubt hat, wie ein religiöser Mensch an Gott glaubt. Gott, das war die allerhöchste Figur im Spiel. Daß er selber ernstunfähig war, hat er weder geahnt noch gewußt, noch begriffen. Man hätte ihm in den Arm fallen müssen.
Der Vorfahr kommentiert diese und jene Manie der Majestät durchaus witzig. Er bemerkt sogar, daß Wilhelm wahrscheinlich aus einer schwer erklärlichen persönlichen Unsicherheit von einer Uniform in die andere floh. Er hat durch den Kammerdiener den Text eines Telegramms erfahren, das Wilhelm an seinen Vetter, den Zaren Nikolaus, sandte, bevor sie sich auf der Zarenyacht trafen: «Welchen Anzug für Begegnung? Willy.» So unsicher war er. Es ist zuviel verlangt, vom Großvater zu erwarten, er hätte die Erhebung in den erblichen Adelsstand ablehnen sollen. Wir haben die drei Buchstaben in unserem Namen ja auch nicht gestrichen. Die Vergangenheit ist nicht abwählbar. Man vergesse nicht — und das macht diesen Wilhelm für heutige Vorgänge auf hoher Ebene musterhaft —: Wilhelm war beliebt. Heute würde man sagen: echt beliebt. Er wurde verehrt. Er war der erste Medienkaiser. Niemand in Europa, auch nicht Caruso, wurde so häufig, so feierlich und so phantastisch fotografiert wie der Kaiserdarsteller Wilhelm II. Keiner wurde so ätzend oder so liebevoll karikiert. Das steigerte seinen Wahn, bestätigte ihn. Er brauchte Gott als höchste Kulissenzutat, die Massen, längst gottverlassen, brauchten ihn als Abgott. So jemandem in den Arm zu fallen wagt man in Deutschland nicht. Er war ein Megastar. Nichts anderes. Auch heute ist es undenkbar, einen Megastar daran zu hindern, seine Siege zu pflücken. Seine Zeitgeistsiege.
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