Wie kommt das, daß wir solche bis zum Irrsinn unfähige Figuren, Figuren äußerster Unmöglichkeit, nicht loswerden ohne Krieg, ohne Gesamtkatastrophe? Die Kapelle im Eulenburg-Schloß Liebenberg heißt heute Libertas-Kapelle, weil Libertas, die Enkeltochter Eulenburgs, hier getraut und dann, 1942, von Hitlers Bande in Plötzensee hingerichtet worden ist, zusammen mit ihrem Mann Harro Schulze-Boysen, beide Widerstandskämpfer, organisiert in der Roten Kapelle. Die um Hitler herum haben sich viel schlimmer aufgeführt als die um Wilhelm herum.
Die Sehnsucht der Deutschen nach durch keine Vernunft begrenzten Figuren. Selbst wenn das eine Sehnsucht aller Menschen sein sollte, so haben andere Länder doch verläßliche Hemmungen kultiviert, die uns fehlen. Hitler war der erste Mediendiktator, wie Wilhelm der erste Medienkaiser war. Verglichen mit Hitler darf man Wilhelm schuldunfähig nennen. Nach dem antiken Rom hat es, außer der deutschen, keine westliche Gesellschaft mehr zugelassen, daß sich einer zum Abgott machen lassen konnte und sich dann auch entsprechend benahm. Derjenige muß nur die jeweils neueste Technik der Selbstvervielfältigung so rechtzeitig, so früh benutzen, daß seine Person das technische Wunder selbst wird. Eine bis dahin unerhörte Allgegenwart. Dann funktioniert das. In Deutschland. Warum? Die Person im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.
Ich war immer Teil des Problems. Ich bin nicht selbständig geworden. Und unabhängig schon gar nicht. Ich verabschiede mich. Zu spät.
Fritz Wunderlich ist, ich glaube, neununddreißig gewesen, als er im Jagdhaus eines Freundes die Treppe hinunterstürzte und starb. Das letzte, was ich hören werde, ist seine Stimme. Wenn er die Schubertlieder und die Schumannlieder singt, schreit er. Und das hat nichts mit Lautstärke zu tun. Seine Stimme schreit, weil er diese Lieder singt. Diese Lieder schreien, wenn sie richtig gesungen werden. Ich habe gewählt. Schumann — Wunderlich — Heine: Im wunderschönen Monat Mai. Mayday.
Helen war zurück, kam hinauf, klopfte an, Karl sagte Ja, sie trat ein, sah ihn da sitzen, er fragte: Darf ich dir etwas vorlesen?
Dann las er ihr alles vor, mußte aber Pausen machen, Atem holen, sonst hätte er nicht weiterlesen können.
Als es ihm gelungen war, alles vorzulesen, schaute er wieder auf. Helen weinte. Sie weinte so leise, wie sie lebte.
Dann sagte sie: Dieser ruhige Mensch.
Karl sagte, er müsse der Schwägerin schreiben. Zum ersten Mal sagte er nicht Frau Lotte, sondern Schwägerin .
In ihm stürmte es. Wilhelmprotz, Hitlerwahn, Ereweinelend. Das Lebensdurcheinander. Im Katastrophenschutt und — dreck die Götzenbilder.
Helen sagte noch einmal: Dieser ruhige Mensch. Sie müsse sich vorwerfen, daß sie, was jetzt passiert sei, nicht für möglich gehalten habe.
Karl sagte: Das ist immer so.
Frau Lenneweit fragte, ob sie durchstellen solle, Graf Josef sei am Apparat. Frau Lenneweit wußte so gut wie Karl, daß Graf Josef anrufen würde, bis er Karl von Kahn erreichte, also sagte er: Bringen wir’s hinter uns. Graf Josef rief immer für Benedikt Loibl an, immer um zu melden, was Loibl jetzt wieder angerichtet hatte. In der Firma hießen Graf Josef und Benedikt Loibl: Unsere Laienschauspieler.
Karl war jedesmal überrascht, was Graf Josef sich zur Dringlichmachung seines Anliegens wieder hatte einfallen lassen. Heute meldete Graf Josef: Er habe Benedikt Loibl auf der Liegewiese gefunden, ohnmächtig, Cognac, die leere Flasche neben ihm im Gras. Als es Graf Josef gelungen war, Loibl mit besonders sanften Ohrfeigen aus dem Koma zurückzurufen, erfuhr er: Benedikt Loibl hat Herrn von Kahn betrogen. Ist ihm regelrecht untreu geworden. Daß er seinen Retter und Gönner betrogen hat, das verzeihe ihm, wer wolle, er verzeihe es sich nicht. Da geschieht es ihm gerade recht, daß er bestraft wird jetzt, dreihunderttausend sind weg. Eine Immobilie und dann Insolvenz, er sieht keinen Cent mehr von dem Geld und hat, was er da investiert hat, doch gar nicht gehabt, das hat er geliehen. Ein paar Tage flau, das Wetter auch nichts, der Umsatz sackt ab, jetzt geht’s los, denkt er, jetzt aber schnell, und da bietet sich, bietet ihm der Steuerberater diese Immobilie. Wenn Herr von Kahn es über sich brächte und käme, verlangen kann er’s nicht, bei Gott, das weiß er. Und weinte und schniefte und schneuzte sich. Und er, Graf Josef, hat den Benedikt Loibl, der ja sein Chef ist, so schnell wie möglich durch den Hintergang ins Haus und ins Büro schleppen müssen. Hätte ein Hotelgast den Chef in diesem Zustand gesehen, hätte der das Verkehrsamt angerufen, die Konzession wär weg. Jetzt hocke er auf seinem Bürostuhl, den Kopf auf dem Schreibtisch. Wenn Graf Josef sage, Chef, was ist jetzt? murmle der immer wieder nur den gleichen Satz: Ich muß erwachsen werden, endlich. Immer bloß das. Graf Josef habe ihm ins Ohr gerufen, ob er Herrn von Kahn verständigen solle. Da habe der Chef sich aufgerichtet und habe den ersten klaren Satz klar ausgesprochen: Graf Josef, ja, aber sag Herrn von Kahn, wie ich mich genier.
Karl sagte seinen Spruch für solche Fälle: In jedem Sturz steckt ein Start. Den finden wir. Um fünf bin ich bei euch. Bei Frau Lenneweit bestellte er ein Vollmacht-Formular.
Dr. Herzig kam aus seinem Zimmer, war wie immer in Eile, er fährt nach Frankfurt, dort ist morgen Medtech Day . Der Early Stage-Markt blüht, sagte er, die berührungsfreie Meßtechnik wird ein Renner. Oh, sagte er, stellte die Tasche ab, ging noch einmal in sein Zimmer, kam mit einem Blatt zurück, da habe er doch einen Spruch vom Hausheiligen der Firma, als Zitat der Woche für die nächste Kunden-Post . Hören Sie, bitte, Carla — er nannte Frau Lenneweit Carla, sie ihn Dirk — , den Spruch unseres Hausheiligen zum heutigen Tage. Also, spricht Warren Buffett: It’s not that I want Money. It’s the fun of making it and watching it grow.
Karl fragte: Was sagen unsere Damen dazu?
Frau Lenneweit in Einserschülerin-Schnelligkeit: Ja, lieber Dirk, mit dem Spruch haben wir im Oktober 1995 unsere Kunden-Post eröffnet.
Frau Leuthold, satirisch: Da war ich noch im Kindergarten.
Karl sagte, er finde es sympathisch, daß Dr. Dirk den Hausheiligen gelten lasse.
Herr Brauch sagte von seiner Tür her: Vielleicht sogar in der Praxis, wer weiß.
Muß ich da einen kritischen Unterton heraushören, sagte Dr. Dirk.
Nie ohne den Oberton der Bewunderung, sagte Herr Brauch.
Dr. Dirk mußte jetzt wirklich gehen.
Karl von Kahn dachte an die Kunden-Post- Nummer, in der er über Mr. Buffett einen verehrungsvollen Artikel geschrieben hatte, mit Bild. Insgeheim hatte er gehofft, daß jemand bemerke, wie er Mr. Buffett gleichsehe. Aber weder einem Kunden noch einem Mitarbeiter, noch Helen war diese Ähnlichkeit aufgefallen.
Frau Lenneweit mahnte: Sie hat einem, der eine arg laute Stimme hat, versprochen, daß er, sobald Herr von Kahn frei sei, zurückgerufen werde. Darauf hat dieser Laute gesagt: Aber glauben Sie nicht, daß ich, falls Sie mich auf die lange Bank schieben, nicht noch einmal aufkreuze bei Ihnen. Ich gehöre zum Stamm der Gnadenlosen. Jetzt verband sie.
Es meldete sich Theodor Strabanzer. Karl hatte das Gefühl, der genieße seinen Namen, wenn er ihn aussprach. Er sprach viel lauter, als man es am Telefon erwartet. Schon gar nicht bei der bloßen Namensnennung.
Sehr gut, maravilloso, daß Sie al instante reagieren, rief Herr Strabanzer, so muß es gehen, samuraisch knapp. Sein alter Freund, die Exzellenz Stengl, habe ihm gesagt, der einzige, dem er es gönne, an einem so rasend schönen Projekt finanzierend mitmachen zu dürfen, sei Herr von Kahn. Und seinem alten Freund Amadeus traue er wie der Schlüssel dem Loch.
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