Im Labor ist nichts mehr an seinem Platz. Tito über der Tafel ist es. Unter meinen Sohlen knirscht es lauter, je leiser ich auftreten möchte. Titos weiße Admiralsuniform. Titos Schäferhund. Titos rechtes Auge: ein Einschussloch. Tito ist schon wieder gestorben, zum vierten Mal. Diesmal wurde er erschossen.
Platte Symbolik, sagt Fizo.
Unter Titos einäugigem Leichnam kann ich in einer Schule, die keine Schule mehr ist, oder nur Fizos Schule ist und die Schule seines Widerstands, seiner Stromarbeit, seiner Stromleistung, nichts mehr wirklich wichtig nehmen.»Symbolik «werde ich später zwar nachschlagen, aber nur, weil mich das Wort wütend macht. Ich will wissen, ob Einäugige lieber links oder rechts blind wären und will wissen, wie viel Blut wir wirklich haben und will wissen, ob jeder Schuss in den Hals tödlich ist. Ich will wissen, wie viele Tode Tito noch hat.
Nichts im Labor ist an seinem Platz. Ich stehe da.
Krsmanović, ruft Fizo, möchtest du uns nicht helfen?
Genosse Jelenić, ich weiß nicht, wie.
Ich wische die Tafel mit dem trockenen Schwamm. Wäre ich Fähigkeitenzauberer, könnte Glas selbst entscheiden, ob es zerbricht, und Fizo, der strengste Lehrer der Schule, sagt: gut.
Gut, sagt der Soldat mit dem goldenen Zahn, als Edin und ich mit den Angeln, den Fischen und den Kaufhausheften in unsere Straße einbiegen. Vielleicht haben die Mütter noch nichts gemerkt und außerdem: wir waren in der Schule, das ist nie falsch. Müssen also nur die Fische weg, die Angeln verstecken wir gleich im Hof.
Gut, aber was sollen die Fische auf dem Dach? fragt der Soldat, als ich die Tüte mit unserem Fang auf die Trafik lupfe, hinter der er hervorkommt, seinen Reißverschluss hochziehend, Brotteig an den Händen.
Für die Katze, sagt Edin.
Gut, sagt der Soldat, für die Katz, alles ist für die Katz, alle Schlachten für die Katz, alle Hühneraugen für die Katz, wenn ich meine Emina nicht finde. Kennt ihr Emina? Amela ist meine Emina nicht.
Ich erinnere mich an Ur-Opas Lied auf dem Erntefest, an die eitle Emina mit dem Hyazinthenhaar. Der Soldat setzt sich auf den Bordstein zu einem Mann mit weitem weißen Gewand und schütterem Haar, packt den Tabak aus und beginnt, eine Zigarette zu drehen. Die Hände des Mannes stecken bis über die Knöchel in einem schwarzen Zylinderhut, mit dem er nervös spielt. Erst am Zylinderhut erkenne ich den Mann, so aufgequollen ist sein Gesicht, so gebückt kauert er da. Es ist Musa Hasanagić, aber wo ist seine Karfiol?
Ich bitte Sie, fleht Musa den Soldaten an, sagen Sie mir, was mit ihr passieren wird!
Die Pferde tun mir schon Leid, sagt der Soldat und beleckt das Papierchen, welcher Krieg war der schlimmste für das Pferd? Welchen Krieg haben wir jetzt? Neunzehnvierzehn, neunzehnzweiundvierzig, neunzehnzweiundneunzig … damals sind die Pferde wie Fliegen gestorben. Jetzt sterben den Pferden die Menschen weg, und die Pferde haben doch die Freiheit verlernt.
Edin stößt mich mit dem Ellenbogen in die Seite, los jetzt! aber ich kann mich nicht bewegen, ich kann nicht weg, solange der Soldat in diesem Ton spricht, solange er in diesem Ton erzählt. Er setzt Musa den Zylinder auf den Kopf und schiebt ihm die Zigarette zwischen die Lippen. Aus dem Rucksack holt er einen Brotlaib und bricht große Stücke ab, füttert den Alten. Amelas Brot. Musa kaut zahnlos, an seinen Händen rasseln die Handschellen.
Mädchen habe ich viele umgeworfen, sagt der Soldat, nur eines davon, Emina, ließ ich ungeküsst. Wie sie mir Kirschen aus der Hand aß! Mich mit ihrem Kinn am Handgelenk kitzelte! Der Soldat senkt verlegen den Kopf und kratzt den Teig unter den Nägeln aus.
Emina ist dir entkommen! Sie ist dir entkommen! ruft Musa, und seine Augen glänzen.
Da bist du, da bist du! Meine Mutter rennt mir entgegen, als Edin und ich den Hof betreten. Aleksandar, hör gut zu: wir fahren weg. Pack deine Sachen. Beeil dich. Ein paar Tage raus.
Das Treppenhaus ist fast leer, Čika Milomir fegt rauchend den Flur, ascht auf den Boden und fegt das wieder weg. Die meisten Wohnungen stehen offen, die Nachbarn räumen schweigend auf, Glas überall.
Oma Katarina steht am offenen Fenster. Oma?
Edin und ich stellen uns zu ihr. Oma?
Vier Soldaten mit Bart wollen ein Pferd von der Brücke in den Fluss werfen. Sie führen es an den Zügeln. Das Pferd und die Soldaten sehen von der Brücke über das Geländer in den Fluss. Die Soldaten schieben, strengen sich an. Das Pferd steht da. Von alleine klettert es nicht über das Geländer. Ich bin der Selbstherrlichen satt! schreit einer der Bärte wie ein Schwerhöriger und hält dem Pferd die Pistole an den weißen Fleck auf der Stirn. Die Soldaten rauchen. Die Soldaten tätscheln dem Pferd die Nüstern. Die Soldaten führen das Pferd von der Brücke ans Ufer zurück.
Erschießt das Vieh doch einfach, ruft ihnen einer mit Sonnenbrille zu. Der spielt Gameboy auf seinem regennassen Panzer.
Pferde erschießt man, wenn sie nicht mehr können, schreit der mit dem Zügel in der Hand und führt das Pferd in tieferes Gewässer.
Karfiol frisst gern Karfiol, sagt Oma. Wo gibt es das denn, ein Pferd mit diesem Namen?
Musa Hasanagić trug den Zylinderhut und dressierte seine Karfiol. Edin und ich sahen häufig zu. Das Grammofon spielte Bolero. Die Stute flanierte im Schritt dazu, trabte mit erhobenem Kopf. Traversale! rief Musa und klopfte gegen den Zylinder. Passage! rief er. Er schnippte mit den Fingern, und Karfiol drehte sich auf der Stelle.
Ein Schuss fällt, das Pferd scheut, Oma zuckt zusammen. Hätte das mein Slavko erlebt, flüstert sie in ihre Hand, wäre sein Herz nicht stehen geblieben, sondern zehntausendfach zersplittert.
Der Soldat mit dem Teig an den Händen läuft gemächlichen Schrittes über die Straße, Zylinderhut auf dem Kopf, die Tüte mit unseren Fischen in der Hand. Ich drücke mein Gesicht an Omas Hüfte. Sie müsste Edin und mich vom Fenster fortschicken, sie müsste das Fenster schließen. Sie flüstert: Karfiol, was für ein hässlicher Name für so ein schönes Tier.
Karfiol scheut, Karfiol buckelt, Karfiol tritt mit den Vorderbeinen nach dem Soldaten, Karfiol reißt sich los, Karfiol prescht durch das Wasser auf das Ufer zu. Am Ufer stehen drei Soldaten mit Bart und rauchen freihändig, die Gewehre im Anschlag.
Zitternd mache ich einen Schritt vom Fenster weg und halte mir die Ohren zu. Ich stürze rückwärts aus dem Zimmer, packe meinen Rucksack. Edin hilft mir ernst und stumm. Ich schmiere drei letzte Bilder des Unfertigen aufs Papier und verstecke sie mit den restlichen hinter Oma Katarinas Kleiderschrank, neunundneunzig an der Zahl. Emina, weit weg vom Soldaten mit dem goldenen Zahn. Karfiol im Galopp ohne Zäune weit und breit. Pistole, nicht geladen.
Im Treppenhaus begegne ich meinem Vater, er hetzt die Stufen hinauf, nickt mir zu wie einem Bekannten, Schweißflecken unter dem Arm. In jedem Stockwerk rufe ich Asijas Namen und bekomme keine Antwort. Das Gepäck stopfe ich in den Haufen auf dem Rücksitz unseres Yugos, der jetzt, so voll beladen, wie die anderen Autos aussieht, die in den letzten Tagen Višegrad aufgegeben haben. Nena, kriegst du Luft da hinten? Nena Fatima lächelt mich an, und die Tüte mit meinen Malsachen fällt ihr in den Schoß. Ich will den Fußball mitnehmen, Mutter schüttelt den Kopf, und ich passe ihn Edin zu. Vater und Oma kommen aus dem Gebäude, Oma küsst weinend die weinenden Nachbarinnen und bleibt vor einem der Wachsoldaten stehen. Sie mustert ihn von Kopf bis Fuß, steigt auf die Zehenspitzen und zischt ihm etwas ins Ohr. Der Soldat grinst hämisch und zuckt mit den Schultern. Oma zwängt sich auf den Rücksitz neben Nena Fatima.
Edin hat den Ball mit der Sohle gestoppt. Aus seiner Hosentasche holt er ein Stück Kreide und lässt es zwischen den Fingern kreisen. Er wippt auf dem verbogenen Garagentor, in das gestern ein Panzer beim Einparken gedonnert ist. Ein Soldat stieg oben heraus, besah fluchend den Schaden, wischte mit dem Ärmel über das Metall und fuhr wieder weg. Das Tor fiel aus den Angeln, die kleinen Fenster brachen. Edin macht das Geräusch des brechenden Tores nach und schabt mit der Fußspitze in den Scherben. Irgendwie, sagt er, ist die ganze Stadt zersplittert. Haust du jetzt auch ab?
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