Vukoje Wurm, der auf seine dreimal gebrochene Nase stolz war, traf mich mit einer zusammengeknüllten Todesdrohung am Hinterkopf. Er zählte darin die Foltermethoden auf, die nach der Schule auf mich warten würden, und nannte mich Klugschajsa und Komunistenschwajn.
Meine zusammengeknüllte Antwort verfehlte ihn knapp.
Genau genommen hatte Tito an diesem ersten Tag des Schuljahres keinen Fleck hinterlassen. Flecken sind etwas Schmutziges, die Wand hinter Titos Rücken war aber sauber — ein weißes Rechteck, um das sich die restliche, beigefarbene Wand schloss. Den hellen Ausschnitt hatte Tito beschützt, deswegen war er sauber geblieben.
Auch uns, seine Pioniere, hatte Tito beschützt.
Man sagt das so, obwohl Tito sich nicht vor uns stellte und Dissidenten bruce-lee-kickte, die etwas gegen uns oder gegen den Roten Stern hatten. Er fand die Jugend fortschrittlich für den Fortschritt und die gute Laune Jugoslawiens, er hatte sogar seinen Geburtstag auf den Tag der Jugend gelegt. Auf Fotos war er oft mit Pionieren zu sehen, er lachte und die Pioniere lachten, und unter dem Bild stand, dass Tito und die Pioniere lachten.
Ich traf Tito ein Mal. Das zählt aber kaum, weil ich da zu sehr Säugling war, und ein Treffen, an das man sich nicht erinnert, das ist ein ziemlich kümmerliches Treffen. Tito besuchte Višegrad, und als sein weißer Mercedes ohne Dach vorbeifuhr, winkte er mir zu, behauptete Opa Slavko. Er behauptete auch, mit Tito eine Stunde lang im Hotel Višegrad über die Stilllegung der Bahnstrecke gestritten zu haben. Gegen Tito war sogar er machtlos, durch unsere Stadt fuhren bald keine Züge mehr und Opa Rafik verlor seine Arbeit.
Wenn ich so alt bin wie Tito, habe auch ich eine weiße Limousine, in der man hinten stehen darf. Edin ist mein Fahrer, mein linientreuer Sekretär-bester-Freund und Agent, zuständig für Vogelstimmen und das Biologieministerium, weil er so viel über den Frauenkörper weiß.
Unser gerahmter Genosse wurde gar nicht sauber gemacht. Das kapierten auch diejenigen, die keine ehemalige fachpolitische Beraterin für das Lokalkomitee des BdKJ als Mutter hatten und deren Opa nicht alles erklären konnte. Mit unserem Tito geschah etwas anderes. Unser Tito starb. Noch mal. Indem man seine Bilder aus den Klassenzimmern nahm, starb Josip Broz Tito zum dritten Mal.
Edin tippte mir gegen die Schulter. Psst … Aleks, was hast du Vukoje Wurm geschrieben?
Nichts. Ich habe seine Rechtschreibfehler verbessert.
Seinen ersten Tod hatte Tito am 4. Mai 1980 um 15.05 Uhr. Da starb aber nur sein Körper, und Jahr um Jahr stehen am 4. Mai um 15.05 Uhr alle Menschen auf der Welt und im All still und gedenken Tito, außer in Amerika und in der Sowjetunion und auf dem Jupiter, weil auf dem Jupiter kein Leben möglich ist. Sirenen jaulen, Autos fahren nicht weiter, und ich krame in meinem Gedächtnis nach einem passenden, traurigen Marx-Zitat, um die Schweigeminute zu beschließen und irgendjemanden zu beeindrucken. Mir ist nie eines eingefallen.
Karl Marx hat keinen einzigen traurigen Satz geschrieben.
Nach seinem ersten Tod zog Tito mit einem Köfferchen Reden und Aufsätze in unsere Herzen ein und baute sich dort eine pompöse Villa aus Ideen. Opa Slavko beschrieb die Villa so: die Wände bestehen aus Wirtschaftsprojekten, die Dachziegel aus Friedensbotschaften und durch die roten Fenster sieht man auf einen Garten mit Mohn, blühenden Zukunftsparolen und einem Brunnen, aus dem man unendlich viele Kredite schöpfen kann. Mit den Jahren machten immer mehr Leute, was sie wollten und interessierten sich immer weniger für Titos Ideen, und wenn sich niemand für eine Idee interessiert, dann ist die Idee tot.
So starb Tito das zweite Mal.
Aber er lebte weiter in Gedichten und Zeitungsartikeln und Büchern. Bald wurde es aber richtig, diese Bücher nicht zu besitzen und die Gedichte nicht gelesen zu haben. Dann wurde es noch richtiger, die Bücher ins Regal zu stellen, die früher verboten waren, und irgendwann wurde es am richtigsten, Zeitungsartikel und Bücher selbst zu schreiben, die früher verboten gewesen wären. Nach Opas Tod war es meine Mutter, die mir von all diesen Dingen erzählte. Sie war Politologin und kannte sich aus. Opa sagte: Marxistin, und freute sich darüber. Sie selbst freute sich nicht. Wenn man mich früher fragte, was meine Mutter von Beruf sei, zögerte ich keine Sekunde: Fachpolitische Beraterin für das Lokalkomitee des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens! rief ich tantetaifunschnell. Sie schreibt die Reden für die Sekretäre und den Präsidenten des Lokalkomitees, diese Hohlköpfe. Hohlköpfe sagte ich nicht laut, ich wusste aber, dass sie das waren, weil sich meine Mutter hunderte Male über das vielförmig Hohle an ihnen beschwert hatte. Das leere Gehirn, das lückenhafte Gedächtnis, die Kluft zwischen Versprechen und Machen, der löcherige Geldbeutel, und: Saufen wie die Löcher, aber kriegen keinen vernünftigen Satz aufs Papier.
Wenn man mich heute fragt, was meine Mutter von Beruf ist, sage ich meistens: müde. Am müdesten ist man, wenn man immer zu viel arbeitet und immer nur davon spricht, dass man immer zu viel arbeitet. Arbeit macht alt. Meine Eltern kommen von der Arbeit nach Hause und reden über die Arbeit. Vater zieht sein Hemd aus und wäscht sich im Bad die Füße. Er arbeitet in einer Fabrik, in der Holz zu Möbeln gehauen wird, ist aber leider kein Holzfäller, sondern sitzt zwischen Taschenrechnern in einem Zimmer mit Tischkalender und trägt ein Hemd. Zu Hause trägt er nie Hemden und arbeitet in seinem Atelier, nennt das aber nicht Arbeit. Er sagt, er kann Zahlen noch weniger ausstehen als unsere Regierung. Vater putzt seine Brille und verzieht das Gesicht, wenn er aus kurzer Distanz auf den Brillengläsern nach Flecken sucht. Wenn ich so alt bin wie er, habe ich sein graues Haar an den Schläfen. Wenn ich so alt bin wie meine Mutter, werde ich auch eine Stunde lang ununterbrochen von Sorgen erzählen können, nur werden das nicht meine eigenen sein. Mutter hatte eigentlich Eiskunstläuferin werden wollen. Jetzt läuft sie sich in unserem Gericht müde. Sie sagt: diese Gesetzgebung ist fast schon sympathisch, so unbeholfen ist sie. Abends schmiert sie Brote für die Arbeit: Ich schmiere dann mal die Brote für die Arbeit — immer sagt sie genau diesen Satz, das ist wie Vaters Füßewaschen. Ich frage mich, warum sie die Butter nicht für sich und Vater aufs Brot streicht. Eine Arbeit, rief ich einmal, muss doch nichts essen, und meine Mutter antwortete: dochdoch, mich frisst sie Tag für Tag.
Über die praktische Umsetzung marxistischer Ideologie, den Selbstverwaltungssozialismus, Titos Außenpolitik oder wie man einen Fisch am besten ausnimmt, hatte ich immer am liebsten mit Opa gesprochen. Mit meinem Vater waren solche Unterhaltungen sehr schwierig. Er neigte dazu — wenn er überhaupt Lust hatte, mit mir zu reden —, sich alles Mögliche auszudenken, um sich seine Inkompetenz nicht anmerken zu lassen. Anstatt über Jugoslawien, sprach er von einem namenlosen Königreich, in dem es Wörter für Dinge gibt, die nicht existieren, und Dinge gibt, für die keine Wörter existieren dürfen. Wenn jemand ein Wort für etwas erfindet, das sonst namenlos in der Welt herumsteht, wird er zur Strafe auf eine Insel geschifft, die ebenfalls keinen richtigen Namen trägt und deswegen» die nackte Insel «genannt wird.
Gute Geschichten erzählen zu können wird vererbt, aber überspringt schon mal eine Generation.
In unseren Schulbüchern lebte Tito am längsten. Geschichte, Serbokroatisch, nicht einmal Mathe kam ohne ihn aus. Die Entfernung von Jajce nach Bihać beträgt 160 Kilometer. Ein Yugo fährt mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h von Jajce nach Bihać. Zur gleichen Zeit läuft unser Josip Broz Tito mit einer gleich bleibenden Geschwindigkeit von 10 km/h von Bihać nach Jajce. Bei welchem Kilometer treffen sie sich?
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