Ich kann keinen schlafenden Beifahrer gebrauchen, sagte Walross, pennst du mir weg, setz ich dich auf dem Romanija aus. Er leckte sich die Finger ab, mit denen er die Rippchen gehalten hatte. Bis zum Knochen ordentlich abgenagt hatte der ordentliche Schiedsrichter das Fleisch. Die Rechnung ging aufs Haus. Der Birnenkuchen ging aufs Haus. Die Birnenschnäpse gingen aufs Haus. Walross kippte seinen dritten runter und stieß beim vierten mit dem Hotelbesitzer auf den Sieg der Jugoplastika an. Walross! Walross! Walross! riefen Kellner und Ehrengäste.
Walross! Ein Lied für Walross! lallte der Hotelier, ein feister Ungar namens Agoston Szabolcs, und lockerte die Krawatte. Aus der Küche schlängelte eine schnelle Akkordeonmelodie in die Stube. Der Koch trat die Tür auf und schaukelte durch den Saal. Hier bin ich das Orchester! Um seinen grandiosen Bauch riss er das rote Akkordeon auseinander, an der Hüfte baumelte eine fettige Fleischgabel, Schweiß troff ihm ins Lächeln. Die kurzen Finger rutschten über die Tasten, das Vorspiel roch nach Rind, nach Knoblauch, nach Metall. Sofort bewohnten zwanzig satte Männer das Lied, zwanzig siegreiche Stimmen, mit jeder Strophe und jedem Klaren kaputter, gewonnener, verliebter. Der Koch grinste wie unter Qualen. Der Koch pfiff. Der Koch tropfte. Der Koch stellte seinen Fuß wie etwas Totes auf dem Stuhl ab, um das Akkordeon zu stützen. Joooj! litt der Koch und rief den Schnaps zu sich. Aus der Flasche schüttete er sich den Schnaps in die Kehle, ohne dass das Lied stockte, als er die Hand von den Tasten hob, ich bin das Orchester! gurgelte er, ich!
Die Kellner nahmen Bestellungen auf, bestellten immer das Doppelte für sich. Sie drehten die Tabletts auf den Fingerkuppen, umarmten einander und schunkelten zu den Liedern, Matrosen in Schwarz.
Der achte, rief Walross und warf das siebte Glas über die Schulter, ist für meinen Kleinen, bloß darf er noch nicht, ich verwalte das so lange.
Klein ist kleiner als ich, wehrte sich Zoran und trank die letzten Tropfen aus jedem Glas, ohne das Gesicht zu verziehen. Agoston Szabolcs tat es ihm gleich, nur nahm er volle Gläser, schlief nach dem zehnten ein, den Ellenbogen im übervollen Aschenbecher. Alle Maul halten! schnauzte der Koch und das Akkordeon flüsterte dem Hotelier einen rührseligen Csárdás ins Ohr. Die Männer erhoben und suchten sich, schlossen den Kreis. Arm in Arm traten sie auf. Gläser trafen die Wand und blieben ganz, da erhob sich auch Agoston Szabolcs zum Tanz, noch bevor er aufwachte. Auch Milenko stieg in den Reigen, legte den Kopf in den Nacken, mehr Wolf als Walross.
Die ersten hundert Kilometer blieb Zoran wach — beim Gesang seines Vaters war an Schlaf nicht zu denken. Zwei Stunden später trank er den ersten Thermoskannenkaffee und kurz vor Sarajevo war ihm nach der dritten Packung Traubenzucker ein wenig schlecht. Als ihn sein Vater auf dem Romanija weckte, guck mal, Zoran, Nebel wie Zement! rieb er sich die Augen und rief sofort: gar nicht habe ich geschlafen!
Jaja, nur kurz die Augen zugemacht, ganz so wie ich. Wir müssen uns beide dringend die Augen vertreten, das nächste Mal rettet uns die Wiese vielleicht nicht mehr. Das Auto stand ein gutes Stück feldein, rechter Hand ging es steil bergab, wohin, sah man nicht. Fünf Uhr morgens, Nebel wie Zement, Zoran!
Auf dem Romanija war es Nacht, Morgen, kalt und Frühling in einem. Vater und Sohn stiegen aus, der große Mann streckte sich und kratzte sich den Schnurrbart. Zoran gähnte, hob einen Stein auf und warf ihn in den Nebel. Auf den Gräsern und den Schuhen lag der Tau. Sie pinkelten links und rechts an einer Tanne vorbei, bergab durch Nebelzement, pfiffen jeder für sich, jeder fröhlich. Walross lehnte sich an die warme Motorhaube, eine Hand in der Hosentasche, in der anderen die Zigarette. Zoran pflückte Löwenzahn und Gänseblümchen und etwas Hellblaues, das er nicht kannte, und drückte sie zu einem Strauß. Er packte die restlichen Rippchen aus und wickelte die Stängel in die Alu-Folie. Er hielt von Blumen nicht viel, und genauso sah der Strauß auch aus, scheiße, lobte ihn sein Vater, aber Blumen sind Blumen, deine Mutter wird sich freuen.
Sie freute sich nicht. Die Haustür stand offen, offen trug Zorans Mutter ihr Haar. Sie freute sich nicht, sie war nackt, aber warum eigentlich Nebelzement? fragte sich Zoran. Niemals war etwas so weich gewesen wie der Nebel auf dem Romanija, an dem Sonntag, als Zoran und sein Vater Milenko, genannt Walross, schon am Morgen das Haus betraten, sechs Stunden früher als geplant. Die Tür stand offen, offen stand auch der Reißverschluss von Bogoljub Balvan, dem Trafikanten.
Zoran sitzt auf der Treppe vor Meister Stankovskis Frisörladen und starrt auf ein Foto zwischen seinen Händen. Zoran mag die Prinzessinnen unter den Mädchen — langes Haar müssen sie haben, blass und schlank müssen sie sein, und stolz. Wie die Frau auf dem Foto. Und wie Ankica, Zorans Ankica mit den schwarzen Locken.
Ich setze mich neben ihn und reiche ihm die Tüte mit den Sonnenblumenkernen. Zoran ist drei Jahre älter als ich, und ich darf gelegentlich etwas für ihn erledigen. Heute musste ich mit seiner Ankica reden. Ich musste mich bei Zorans Ankica für Zoran entschuldigen.
Obwohl der Laden geschlossen bleibt, muss Zoran auch heute ran. Er soll Meister Stankovski beim Packen helfen, weil der ein paar Tage in Urlaub fährt. Urlaub — ja, klar, sagte Zoran, als ich ihn heute Morgen zum ersten Mal traf, und zog mit dem Zeigefinger die Haut unter seinem Auge nach unten.
Natürlich, sagte ich und machte dasselbe.
Sonst kehrt Zoran das Haar zusammen, poliert die Spiegel und reinigt mit winzigen Bürsten die beiden Panesamig-Rasierer. Meister Stankovski behauptet, die seien besser als Panasonic — schärfer und billiger, und Hand aufs Herz: woher sollen Japaner auch wissen, was Bärten gut tut?
Sieht meine kleine Österreicherin nicht wie Ankica aus? fragt Zoran, als ich ihm die Sonnenblumenkerne reiche und wischt unsichtbare Staubkörner von dem zerknitterten Schwarz-Weiß-Bild.
Ihre Augen kommen mir bekannt vor, nicke ich und sehe mir die junge Frau mit den langen Locken und einer weißen Kleidglocke genauer an. Ich habe das Foto schon oft gesehen, Zoran zeigt es immer, wenn er von Österreich oder von Mädchen schwärmt.
Die gucken da alle so, sagt Zoran und die Prinzessin mustert uns streng, kannst du dir das vorstellen — ein Land, in dem alle Mädchen so gucken? Irre!
Du, Zoran, sage ich, die guckt ja wie Bruce Lee …
Ganz genau, gibt er verträumt und gar nicht überrascht zurück, die Österreicherinnen gucken alle wie Bruce Lee. Haben aber schöneres Haar und diesen Hals …
Wir schweigen beide und sehen uns das Foto an. Diesen Hals! Zoran riecht an den Sonnenblumenkernen. Es ist nicht schwer mit Zoran zu schweigen, denn es ist nicht leicht, mit ihm zu reden. Ihn interessieren nur Bücher, Prinzessinnen, allen voran Ankica, Österreich und sein Vater, das Walross. Immer steckt ein Buch hinten in seiner Jeanstasche, die Jeans ist ausgewaschen, auf seinen Turnschuhen ein weißer Stern.
Grissgott, flüstert er zu dem Foto und küsst die Ecke, in der in geschwungenen Buchstaben Hissi oder Sissi zu lesen ist. Grissgott, kiss die Hand, scheene Frau! Zorans Lippen sind leicht vorgeschoben, wenn er Österreichisch spricht, gespitzt für einen kleinen Kuss. Kiss die Hand, hibsche Frau, kiss die Hand! Kung Fu!
Zoran lehnt sich nach hinten auf die Stufen und kneift die Augen zusammen. Die Sonne steht tief, kaum jemand ist auf der Straße zu sehen. Mit Zoran schweigen ist auch deswegen leicht, weil man nie weiß, wie man ihm eine Frage stellen soll.
Wo warst du so lange? fragt er mich, und spuckt eine Schale im hohen Bogen auf die Straße.
Kurz zu Hause. Meine Alten haben gestritten, ich habe an der Tür gelauscht.
Wer war schuld?
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