— Ich bin seit 11 ½ Jahren verheiratet.
— Das schaffe ich nie, sagt Ladurner.
Und eine junge Schwester gibt ebenfalls ihren Kren dazu:
— Ich auch nicht, schon gar nicht, wo hoffentlich bald neue Scheidungsgesetze kommen. Da werden wir die Männer schön angelehnt lassen.
Nach dem entsetzlichen Tod von Frau Grauböck hat Schwester Bärbel Ingrid in alle Affären des Hauses eingeweiht. Sowie jemand stirbt, kann man damit rechnen, die vertraulichsten Dinge zu erfahren, das ist Ingrid schon öfters aufgefallen. Da hat jeder sein Maß, der eine zum Weinen, der andere zum Reden. Dem Vernehmen nach stimmt Kollegin Ladurner ihre Nachtdienste mit einem Assistenten der Chirurgie ab, einem Ägypter. Ingrid fragt sich, warum sie selbst so blöd ist und nicht ebenfalls anfängt, ihre Fähigkeiten in puncto Fremdgehen auszuloten. Vermutlich, weil ihr die momentane Einteilung mit Mann-Kinder-Berufstätigkeit-Haushalt auch ohne Liebhaber zum Kragen herauswächst. Ein Pantscherl, denkt sie, ist genau das, was mir auf dem Weg ins Narrenhaus noch fehlt.
Drei Aufnahmen und Telefonate um ihre Lohnzettel mit der AUVA und mit dem Rathaus. Die Frau von der AUVA kennt Ingrid sogar noch beim Vornamen, was Ingrid verblüfft. Auch im Rathaus ist man sehr dienstbeflissen. Beide schicken ihr die Lohnzettel von 1968. Somit kann der Wohlfahrtsfonds haben, was er will.
Die Morgenbesprechung ist dann der Schock zum endgültigen Wachwerden. Der Chef hat eine Art wie in der NS-Zeit. Es läuft Ingrid kalt über den Buckel. Diesmal regt er sich darüber auf, daß etliche Kollegen Termine in anderen Häusern wahrnehmen, während sie hier noch im Dienst sind. Er sagt, diese Sümpfe werde er trockenlegen. Er nennt sogar Namen, coram publico, was betretene Gesichter bei den Oberärzten zur Folge hat. Aber den meisten ist es zu gönnen. Dann heimst ein Kollege Lob für Dinge ein, die auf Ingrids Konto gehen. Aber weder der Kollege sagt etwas noch Ingrid. Die ärgert sich bloß, das war ich , müßte sie sagen, und sei’s nur, damit es wenigstens die Kollegen hören, die in unmittelbarer Nähe sitzen. Müßte sie. Aber sie gibt keinen Laut von sich, vielleicht weil sie nach den bedrückenden Ereignissen der vergangenen Nacht nicht begreifen kann, wie solche Ungerechtigkeiten überhaupt möglich sind und warum der Primar ihr den Schrecken nicht ansieht, den sie irgendwie verdauen muß.
Wieder am Gang, erntet das lauteste Lachen ein Witz von Oberarzt Kober:
— Fünf Frauen an der Kette in der Küche. Artgerechte Haltung.
Ingrid lacht pflichtschuldig.
— Ist echt zum Schießen. Hahaha.
Kery hingegen wird böse, Kober solle sich als geohrfeigt betrachten, weil, wie sie sagt, frauenfeindliche Aussage. Ingrid weiß sofort, wie gut das bei den Kollegen ankommt. Kery, das dumme Huhn, kapiert nicht, daß sie sich mit dieser Masche in die Sackgasse manövriert. Ingrid bespricht den schönen Fall mit Kollegin Ladurner, die stimmt zu und meint, sie würde sich ebenfalls hüten.
Raus und weg.
Dick verpackt fährt Ingrid mit dem Lift nach unten. Sie mag das Rasseln der Seilrollen und das dumpfe Aneinanderschlagen der Liftkabel im Schacht. In den Ambulanzgängen werden Namen aufgerufen. Man hört das Brummen des Entwicklers für die Röntgenbilder noch vorn in der Aufnahme. Ingrid stülpt im Gehen die blaue Wollmütze beidhändig über das Haar, schlüpft mit geübtem Ärztinnengriff in die Handschuhe und drückt sich durch die Schwingtüren ins Freie, in die schneidend kalte Luft, in der sie sich ein wenig benommen fühlt. Oder ist es die Erleichterung, den Nachtdienst überstanden zu haben? Für einen kurzen Moment, als sie träge den Schnee von den Scheiben ihres Käfers schiebt und der Wind ihr die aufgewirbelten Kristalle seitwärts ins Gesicht und in den Atemzug treibt, empfindet sie so etwas wie Glück. Das Scheuern der Schneeschaufeln hallt durch die Gassen. Ein Hubschrauber trägt sich ruckend im böigen Wind schrägrechts heran. Ihn in der morgendlichen Diesigkeit landen zu sehen ist ebenfalls ein gutes Gefühl.
Als sie den Wagen startet mit zweimal elsternhaft schnarrender Zündung und dann nur langsam anstotterndem Motor, ist es zwanzig vor neun. Saukalt. Vier Grad unter Null.
Mit kratzenden Scheibenwischern fährt Ingrid zu Palmers und belohnt sich mit zwei Garnituren schwarzer Unterwäsche für den Dienst. Als sie sich nach dem vertraulichen Gespräch mit Schwester Bärbel niederlegte, mußte sie die Diagnose stellen, daß die Wäsche, die sie trägt, schon morsch ist und für eine Affäre nicht mehr geeignet wäre. Ingrid muß zusehen, daß sie trotz des Gedränges, in dem sie sich befindet, mehr auf sich achtet. Sie fährt sogleich zum Friseur. Dort angekommen, wirft sie lediglich einen kurzen Blick durch das Schaufenster und stellt fest, daß es noch immer zu wenige Hippies gibt. Der Laden ist bummvoll, und stundenlanges Warten kommt für Ingrid nicht in Frage, weil ihr kein Laden bekannt ist, in dem man sich Zeit anschaffen kann. Also weiter zum Konsum, einkaufen, sehr kursorisch, Hauptsache viel. Der Grund: Sie kann sich nicht darauf konzentrieren, was sie am Neujahrstag für die Meute kochen will. Sie räumt die Einkäufe in den Kofferraum, dann steuert sie vis-à-vis die Trafik an. Sie hat ihre Zigaretten im Ärztezimmer liegenlassen. Die sind verloren.
Der Trafikant sagt:
— Frau Doktor sehen gut aus.
— Hübsche Kinder habe ich und einen tollen Mann, antwortet Ingrid. Hat der eine Ahnung. Aber sie ist immerhin beruhigt, daß ihr nicht jeder auf den ersten Blick ansieht, wie’s ihr geht.
Dann die nächste eilige Angelegenheit: Die Weihnachtsfilme zum Entwickeln bringen. Und noch mal zum Konsum, weil sie die Servietten vergessen hat. Es ist jetzt Viertel nach zehn. Wenn sie sich beeilt, kommt sie rechtzeitig nach Hause, um von der Couch aus den Vormittagsfilm zu verschlafen. Seit längerem steht wieder einmal Der Hofrat Geiger auf dem Programm, mit der elfjährigen Ingrid als Statistin. Die Freude darüber (oder ein Anfall von Sentimentalität?) läßt sie der Versuchung nachgeben, den Einkauf durch eine Flasche Marillensekt zu vervollständigen. Nach dem Nachtdienst ist sie immer so halb hinterm Mond, sie neigt an diesen Tagen zu Spontaneinkäufen. Wenn schon. Sie ist der Meinung, sie hat sich die Flasche heute verdient.
Was Ingrid daheim geboten bekommt, ist ein fürchterlicher Dreck im Windfang und Cara, die Hündin, die Ingrid vor Wiedersehensfreude am liebsten auffressen würde, obwohl Cara es bestimmt nicht nötig hat, fett wie sie ist. Offenbar haben die Kinder Cara wegen ihrer Schreckhaftigkeit zu Hause gelassen, und auch Peter, den Ingrid in seiner Werkstatt arbeiten hört, wird die Kracherei dankbar zum Vorwand genommen haben, sich im Keller zu verschanzen, statt mit den Kindern zu gehen. An diesem Großkampftag.
Ingrid kann Peters Aversion gegen das Böllerschießen nicht für voll nehmen, schließlich bereiten ihm Fehlzündungen von Rennautos sichtliche Freude. Ihrer Meinung nach hat Peter von der Silvester-Symptomatik bei ehemaligen Kriegsteilnehmern gelesen, wie manche Frauen von Migräne lesen und bei Bedarf Betroffenheit herzustellen wissen. Der Krieg ist bei ihm eine Art Männer-Migräne, sehr schlau, klug, ausgeklügelt. Ausreden. Am zweiten Weihnachtsfeiertag hat Ingrid saubergemacht. Fenster und Türen standen zum Lüften offen, da knallte eine Tür vom Luftzug mit großer Wucht zu, und Peter, der auf dem Sofa eingeschlafen war, bekam einen solchen Schrecken, daß er vom Sofa fiel. Aber Frage (skeptisch): Würden in so einem Fall nicht auch die Kinder vom Sofa fallen? Und: Und außerdem verbringt Peter seine Freizeit ohnehin das ganze Jahr über im Keller, in der festen Überzeugung, daß der Einsatz an der Werkbank seine familiären Schwächen aufwiegt. Auch unter diesem Gesichtspunkt, findet Ingrid, braucht ihr der Herr Straßenverkehrsspezialist nicht sonderlich leid zu tun.
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