Steinwald hingegen, der ein Bier nach dem andern trinkt, mit roten Backen wie eine Jahrmarktsfigur, wie ein Knödelfresser und Armdrücker, gibt Frau Puwein des langen und breiten Auskunft über alles, was sie zu wissen begehrt. Selbst über Philipps neue Kurzhaarfrisur äußert er sich Frau Puwein gegenüber wohlwollend. Dabei hat er bis dahin so getan, als hätte er diese Veränderung gar nicht bemerkt.
Nachdem Frau Puwein und Herr Prikopa gegangen sind, stehen Philipp und seine Gehilfen noch eine Weile im trüben Schein des Hoflichts, angestrahlt von der scharfen Wärme des Grills. Sie trinken weiterhin Bier, aber jetzt mit kleineren Schlucken. Sie stoßen zum sie wissen nicht wievielten Mal auf den Fortgang der Arbeit und die guten Geschäfte an. Im Glauben, einen günstigen Augenblick ausfindig gemacht zu haben, sagt Steinwald, daß er es für das klügste hielte, wenn er und Atamanov sich für die Dauer der Arbeiten, die noch zu leisten seien, in den leerstehenden Zimmern des Obergeschosses einrichten würden:
— Platz ist ja genug vorhanden.
— Wie bitte? fragt Philipp, ganz so, als habe er Probleme mit dem Gehör.
Aber Steinwald, weiterhin überzeugt, daß das, was er vorzubringen hat, eine gute Idee ist, fügt gelassen hinzu:
— Dann müssen Sie uns für die Arbeiten, die wir am Abend erledigen, keinen Lohn bezahlen, und wir sparen Wohnungskosten, was vor allem gut ist für Atamanov und seine Hochzeit.
Philipp nimmt einen kräftigen Schluck. Er überlegt, was die beiden von ihm wollen. Wenn er sich recht entsinnt, sind sie Abgesandte Johannas, und aus Johanna wird er nicht klug, oder anders (komplizierter): Er begehrt sie mehr, als er sie versteht.
Er beäugt Steinwald von der Seite und sagt:
— Der Boiler reicht nicht für drei.
Dazu macht er das passende Gesicht.
— Wir duschen kalt, entgegnet Steinwald.
Atamanov nickt bedeutungsvoll, als verstehe er jedes Wort, was Philipp, er weiß selbst nicht warum, derart beschämt, daß er ebenfalls nickt.
Sie schweigen eine Weile.
Philipp liegt dann lange wach. Geräusche rasseln rings um ihn herum. Die Fußböden knarren, wie er es eigentlich nicht für möglich gehalten hätte. Einmal hört er, wie sich die Dachsparren in einem langanhaltenden Stöhnen Platz verschaffen, das mutet an, als schaukle ein hölzerner Wagen, mit dem Philipp verreist, auf unruhiger Straße kurz vor dem Auseinanderbrechen. Ständig wacht er auf, dreht die Bettdecke auf die trockene Seite und fürchtet sich.
In dem geräumigen, ein wenig heruntergekommenen Haus mit seinen halbleeren und leeren Zimmern.
Donnerstag, 31. Dezember 1970
Sie weiß auch nicht, warum die Leute in der Nacht sterben. Sie selbst ist in der Nacht immer wie erschlagen, da kann sie sich nicht konzentrieren und richtig mitarbeiten. Außerdem erfaßt sie den Schrecken, wenn so ein Leben zu Ende geht, in der Nacht besonders gut, während tagsüber eine gewisse Gelassenheit bleibt. Sie mag die Nacht nicht sonderlich. Bei Tag ist alles schöner.
Ingrid ruft bei Frau Grauböck zu Hause an, es nimmt niemand ab. Doch zehn Minuten später kommt ein Anruf von Herrn Grauböck, ob etwas sei. Nachdem Ingrid ihn über den schlechten Zustand seiner Frau informiert hat, fragt er, ob er mit den Kindern kommen dürfe.
Rasch schieben die Schwestern die anderen Patientinnen auf den Gang und wiegeln deren neugierige Fragen ab. Im Stationszimmer findet Ingrid zwei Sträuße übriggebliebener Blumen, die sie in das Zimmer zu Frau Grauböck stellt. Die Atmung von Frau Grauböck ist jetzt feucht und rasselnd, als drücke eine ungeheure Last auf den Brustkorb. Ingrid saugt der Sterbenden den Rachen ab, gibt ihr eine letzte subkutane Dosis Morphium. Sie kippt vorsorglich das Fenster, damit es nicht allzusehr riecht.
Der Tod, eine knappe Stunde später, wird dadurch nicht verdaulicher. Die düsteren Zeremonien (rund ums Bett knien, Kerzen anzünden, das Psalmodieren von Sätzen im Konjunktiv der Vergangenheitsform) setzen Ingrid auch diesmal hart zu. Und dann eine zyanotische, fast schwarze Leiche, wie auch Ingrid noch nie eine gesehen hat, und das Zusammenbrechen der Angehörigen, als hätte der Herzschlag der jungen Frau mehr als nur ihren eigenen Körper in Gang gehalten. Schwester Gitti kümmert sich um den Mann, einen kleinen Beamten mit krausen Haaren. Ingrid nimmt sich der Kinder an, die neun, zehn und vierzehn sind. Es ist erschütternd. Alle heulen. Und obwohl das erfahrungsgemäß besser ist als das Betäubtsein, das dann wochen- und monatelang anhält, geht es Ingrid so nahe, daß auch sie weinen muß. Sie liegt sich mit der älteren Tochter von Frau Grauböck in den Armen, bis sie beide wieder ruhiger sind. Ingrid holt mehrmals tief Atem, es ist, als sei sie heftig gerannt. Dann schickt sie die Angehörigen hinaus, damit sie die Formalitäten erledigen kann. Sie leuchtet der Toten in die Pupillen, die trüb und entrundet sind, prüft mit dem Stethoskop die Herzaktion, dabei hat sie die Augen geschlossen, um sich besser zu konzentrieren. Wie meistens hört sie auch diesmal nicht nichts, sondern dumpf die Geräusche draußen vom Gang, die im stillen Körper der Toten widerzuhallen scheinen; was ein wenig gespenstisch ist, beunruhigend und tröstend zugleich, aber auch gespenstisch. Ingrid veranlaßt den Transport der Leiche in den Keller. Sie redet nochmals mit Herrn Grauböck, der sich vielmals für Ingrids Engagement bedankt. Um halb fünf, nach anderthalb Stunden auf vorgeschobenem Posten, als die Angehörigen nach Hause gefahren sind, kann auch Ingrid sich ins Schwesternzimmer verziehen und um einen Kaffee bitten. Sie zündet sich eine Zigarette an, rutscht am Stuhl so weit es geht nach vorne und streckt die Beine aus. So sitzt sie, trinkt, raucht, starrt geradeaus auf die Wand und horcht auf das kratzende Geräusch der Füllfeder von Schwester Bärbel, die ihr Tagebuch schreibt. Auf dem Gang die schlurfenden Schritte eines Patienten, der seine senile Bettflucht auslebt, und geraume Zeit später die quietschenden Räder am Karren der Putzfrau, die kommt, um den Boden feucht aufzuwischen. Ingrid fällt auf, das Gebläse im Schwesternzimmer ist total laut.
Von fünf bis sieben schläft Ingrid. Zuletzt träumt sie, daß sie eine Leiche beiseite schaffen muß, eine grausliche Angelegenheit. Entsprechend ist die Stimmung, als sie vom Krachen des Schneepflugs unten im Hof erwacht. Obwohl es noch dunkel ist, strahlt der Schnee ein wenig Helligkeit in den kleinen Raum, so daß Ingrid ohne Licht aufstehen kann. Sie putzt gerade die Zähne, als das Telefon sein Klingeln gegen die Metallspinde wirft. Es ist Schwester Bärbel, die wissen will, ob es Ingrid gutgeht. Ingrid rennt rüber und hilft Blut abnehmen. War noch was? Wie ist der Zustand der anderen? Frau Mikesch, den Kopf auf der rosaroten Spitzenkrause des Nachthemds, verweigert beharrlich die Blutabnahme, einerseits (Ingrids Eindruck) weil Frau Mikesch diese Weigerung für ihre Psyche braucht und daraus die Energie zum Gesundwerden zieht, andererseits um einen Anlaß zu schaffen, der Ingrid nötigen soll, sich auf Frau Mikeschs endloses Reden einzulassen (auch das zu therapeutischem Zweck). Ingrid läßt Frau Mikesch grantig in ihrem Bett sitzen und verrichtet den Rest der anstehenden Arbeit. Anschließend trinkt sie eine Tasse schwarzen Kaffee und berichtet den Kollegen, die den Dienst antreten, von den Vorkommnissen der vergangenen Nacht: Frau Grauböck gestorben, ihr Tod eine Katastrophe. Frau Mikesch eine Nervensäge.
Oberarzt Doktor Kalvach streichelt Ingrid die Haare, was Ingrid als Ausdruck größten Wohlwollens auffaßt. So was hat Kalvach bisher nie getan, und es ist väterlich gemeint. Ingrid freut sich darüber. Kollegin Ladurner gibt sich derweil die Blöße, allen zu erzählen, daß sie auf ihren Mann grantig ist und deshalb später nach Hause kommen will, um ihm selbiges heimzuzahlen. Kindisch. Ingrid würde so was nie betreiben. Aber es kann ihr recht sein, daß Kollegin Ladurner drauf aus ist, ihre Eheprobleme mit Arbeit suffizient zu therapieren, da braucht sie selbst kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie das Haus so früh wie möglich verläßt. Sie memoriert rasch die Gänge, die sie am Vormittag zu machen hat, dann deklariert sie Kollegin Ladurner ihre eigene Ehe:
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