— Das wird er hoffentlich sein, sagt Peter.
Richard, abwesend, wie mit sich uneins, ob er sich ebenfalls freuen soll (er weiß noch, daß Frieda geweint hat, als sie ihre Kündigung erhielt, sie schrieb hundertmal Ich hasse dich auf die Tapete in ihrem Zimmer, was erst auffiel, als das Mädchen bereits auf der Bahn war), er sagt:
— Ja, anzunehmen, das wird er sein.
Sie räumen den Laderaum des Kleinbusses voll. Richard hat den Verdacht, Ingrid und Peter wollen den Besuch möglichst kurz halten, da ist Sissis Quengeln und Werfen von Gegenständen ein willkommener Vorwand. Daß Kinder um sieben ins Bett gehören, ist eine Erfindung des Biedermeier, und auf das Biedermeier, wie Richard festgestellt hat, legt Ingrid keinen Wert. Ein Stück von Almas Kuchen, geschlungen, ein Glas Bier, geschüttet. Ein Korb mit Danziger Kantäpfeln zum Mitnehmen. Benzingeld aus der generösen Hand des Vaters. Immer zu Diensten. Und dabei das deutliche Gefühl auf seiten Richards, daß ihm, gleichgültig, was er macht, die Gabe, von sich zu überzeugen, abhanden gekommen ist, daß er nicht mehr zu den Menschen gehört, bei denen sich das Blatt schlagartig zum Guten wendet. Der Bus schaukelt an, das Licht der Scheinwerfer streift über die gewaschenen Kiesel, die gleich darauf von den Wagenreifen herumgeworfen werden, die schmutzige Seite nach oben. Kurz eine erhobene Hand im Fensterspalt der Beifahrerseite, wieder zurückgezogen. Und auch der Bus ist gleich darauf weg, mit hängender, wippender Stoßstange, stotternd im schon dichter werdenden Dunkel, hinaus durch das Tor und weg, weg, wie das geht, darüber im hellblaugrauen Himmel der gelb leuchtende Halbmond, in stabiler Seitenlage, über dem Wienerwald, kann sein, daß der Mond dort oben die Ursache dafür ist, weshalb das Grün der Bäume noch schimmert.
— Das war’s für heute, sagt Richard.
Etwas vom verwirrenden Eindruck des Besuchs muß auch bei Alma haftengeblieben sein, denn sie beschließt, in der Dämmerung noch Nüsse einzusammeln.
Eine ganze Weile sieht Richard ihr von der Vortreppe aus zu. Leichter Laubgeruch zieht ihm in die Nase. Er blickt auf die Uhr. Zwanzig vor acht. Er schneuzt sich, schließt dabei die Augen und macht sie erst wieder auf, als sich über den Schotter Almas Schritte nähern. Gemächlich kommt sie heran, mit einem kleinen Eimer in der Hand. Richard nickt ihr zu. Wieso? Er weiß selbst nicht wieso. Rasch wendet er sich ab. Mit einem Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit geht er auf sein Zimmer und sperrt sich ein.
— Du bist eine einzige Katastrophe, sagt Philipp, als Johanna sich wieder blicken läßt: Du bist so unglaublich katastrophal, es ist ein solcher Skandal, daß du es wagst, dich drei Wochen lang nicht anschauen zu lassen. Ich fasse es nicht. Wenn ich je wieder ein Interview geben muß und gefragt werde, was ich für den größten Skandal halte, werde ich nicht mehr nachdenken müssen und wie die Kugel aus dem Rohr eine Antwort wissen: Der größte Skandal bist du, Johanna Haug, ein so unglaublicher Skandal, daß du eigentlich unverzüglich Schluckauf bekommen müßtest. Aber du legst dich auf meine Matratze und ärgerst dich über die Bezüge, schläfst zwei Mal mit mir, stellst den Wecker, und wenn du wieder zu Hause bist, hast du bereits vergessen, daß du bei mir warst. Solche Skandale tropfen dir reihenweise von den Fingerspitzen. Gib zu, daß das sogar dir leid tut!
Johanna strampelt mit den Beinen, reibt den nackten Hintern am Leintuch, wirft die Decke mit den Beinen beiseite und sagt, ehe über Eingeständnisse ihrerseits verhandelt werden könne, müsse Philipp erst einmal zugeben, daß die Bettbezüge häßlich sind.
— Ausgerechnet violett, sagt sie: Das macht alles, was dem Bett auf zwei Meter nahe kommt, ebenso häßlich. Und ausgerechnet ich liege mittendrin.
Sie lacht und küßt ihn, und er lacht mit, obwohl ihm gar nicht nach Lachen ist, Johanna steckt ihn nur an. Er will nicht angesteckt werden, das weiß er, noch während er lacht, weder vom Flor der Bettbezüge noch von Johanna.
— Du häßliches Entlein von einer Meteorologin, sagt er, nachdem sie beide zu Ende gelacht haben: Für Filme geben sich Regisseure viel Mühe mit dem Wetter, das fällt jedem auf oder sollte wenigstens jedem auffallen. Neuerdings lassen sie sogar Frösche regnen, etwa vierzig Millionen, was bestimmt in die Filmgeschichte eingehen wird. Trotzdem kann ich nur lachen, wenn ich daran denke, denn das ist alles ein Witz gegen das, was ich erlebe.
— Ach.
(Vielleicht sollte ich einfach ein bißchen rausgehen oder radfahren oder laut singen oder ins Kissen boxen. Wie schön zu wissen, daß auch das wieder vorbeigehen wird.)
Philipp zieht sich notdürftig an. Ehe er mit Johanna aneinandergerät, was unmittelbar bevorsteht, verdrückt er sich lieber eine Zeitlang in den Garten. Dort dreht und wendet der Wind die Blätter, denen die Nacht ein körniges Grau zugewiesen hat. Eben war’s doch noch hell. Philipp stellt sich breitbeinig zu einem Pflaumenbaum, der rippig dürr und abgeblüht ist, holt seinen klebrigfeuchten Penis heraus und pinkelt gegen den Stamm, mit einem angenehmen Brennen in der Harnröhre, weil er gerade gevögelt hat. Die Sterne stehen ruhig. Das Haus hat in dem spärlichen Licht an Vertrauenswürdigkeit gewonnen, keine Spur mehr von der Schäbigkeit und dem Moder. Selbst die unangenehmen Erinnerungen, die hartnäckig hinter den Fenstern lauern, sind für den Augenblick verblaßt. Philipp schlenkert die letzten Tropfen ab, trabt tiefer in den baumdunklen Garten hinein, seltsam entschlossen, manchmal zaghaft, einen Moment später wieder trotzig, in alle Fallen stolpernd, die diese Nacht ihm gestellt hat.
Die Stimmen der Eltern hören und die der Großeltern, seltsam nah, aber ausgehöhlt und unsicher: Sperrstunde, mein Junge, Sperrstunde! Geh zurück! Noch drei Züge aus der Zigarette. Dann geh zurück! Der Bindfaden der Nacht ist zerkaut und franst am Ende aus. Leg dich zu ihr auf die Matratze, leg dich zu ihr und sag nichts.
In der Früh trödeln vorne an der Straße jede Menge Schüler vorbei. Der Strom reißt ab, gegen halb acht. Eine Pause. Dann kommen zwei, die rennen, weil sie zu spät dran sind. In Philipps Rücken kleidet sich Johanna zum Gehen an. Philipp konzentriert sich ganz auf das, was draußen passiert, und hört, da das Fenster offensteht, das Rufen der Kinder. Die klaren Stimmen sind der Höhepunkt des Tages. Philipp denkt daran, daß ihm sein Vater den Rat gegeben hat, sich bei eventuellen Raufereien an die Schultaschen der Kontrahenten zu hängen und ihnen, wenn sie am Boden liegen, sofort eine reinzuhauen. Als er sich wieder Johanna zuwendet, ist ihm fast, als kehre er von einer solchen Rauferei zurück. Johanna rückt ihren BH zurecht, zieht die Bluse glatt und kündigt an, daß sie jetzt gehen werde (woran er keinen Zweifel hat). Er verabschiedet sich von ihr, ohne Späße zu machen. Die gemeinsamen Späße sind das allerschlimmste, seit einiger Zeit besitzen sie etwas Verlogenes oder führen wenigstens zur Verlogenheit, wenn er abschließend etwas sagt:
— Ciao, Bella.
Er sagt nichts weiter, obwohl er bestimmt nicht alles für gesagt hält, was es zwischen ihnen zu sagen gibt. Er konzentriert sich ganz darauf, die sekundenlangen Blicke, die sie wechseln, in Tage umzurechnen, die sie einander nicht sehen werden.
One, two, three, four, five, six, seven, all the children go to heaven —.
Er denkt, daß alles immer ist, als versuche man denselben Satz, aber diesmal noch schöner, in sein Heft zu schreiben. Vielleicht ist es das, was uns zu armen Teufeln macht.
Und weg ist sie.
Am Nachmittag klebt die Müdigkeit an Philipp wie Dreck, und es ist ihm egal, daß er die Zeit verludert, denn Pläne hat er keine und deshalb auch nichts zu verschieben. Steinwald und Atamanov kreuzen erst gegen zwei, halb drei auf. Das Geschäft mit dem Inventar der Großeltern hat sich als einträglicher und weniger schweißtreibend erwiesen als das Herunterreissen von Tapeten. In Anzügen, die aussehen, als wären sie bei der Caritas am Mittersteig gekauft, steigen sie aus dem roten Mercedes, den sie vor der Garage geparkt haben, schlagen die Türen zu und kommen zu Philipp herüber. Philipp sitzt wie üblich zwischen Papier und Büchern auf der Vortreppe, allerdings ohne zu arbeiten, da er von der Wärme und infolge der vergangenen Nacht ständig halb am Einnicken ist. Steinwald und Atamanov bleiben vor Philipp stehen, sie wollen ihm von dem Erlös, den sie aus dem großmütterlichen Nachlaß lukrieren, einen Anteil ausbezahlen oder gegen ihre Stundenlöhne verrechnen. Philipp wird nicht ganz schlau aus dem, was sie sagen, denn weil er von dem Geld nichts will, hört er nur mit halbem Ohr hin. Er betrachtet weiterhin die Anzüge, die sehr überzeugend sind, speziell in der Art, in der sie von Steinwald und Atamanov getragen werden. In neuen Kleidern könnte er sich die beiden ohnehin nicht vorstellen. Er denkt: Wenn ich trüge, was Steinwald und Atamanov tragen, sähe ich aus wie ein Clown. Sie aber sehen aus wie Männer, die zu tun haben und sich von Kleinigkeiten nicht irritieren und schon gar nicht aufhalten lassen. Er beneidet seine Gehilfen und sagt nochmals, mit der freundlichen Unbeteiligtheit, die ihn momentan charakterisiert, daß er von dem Geld, das sie mit dem Weggeworfenen verdienen, nichts will, unter keinen Umständen. Sie heben die Schultern, nicht hilflos, nein, eher um ihr fehlendes Verständnis für Philipps Holzbockigkeit zu signalisieren. Atamanov kratzt sich hinter seinen großen Ohren. Dann wenden sich beide ab, beinahe gleichzeitig, wie an Fäden gezogen. Sie treten zum Abfallcontainer und stöbern darin, gespannt, was Philipp mittlerweile weggeworfen hat.
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