»Weißt du, was ich dir schon die ganze Zeit erzählen wollte?«
Herr Beck rollt sich herum und dreht den Kopf in meine Richtung. »Nee, was denn?«
»Ich habe jemanden kennengelernt.«
»Ach.« Besonders interessiert klingt Beck nicht, aber das ist mir egal.
»Ja, eine Golden-Retriever-Hündin. Sie heißt Cherie und ist schön. Wunderschön.«
Herr Beck rückt näher an mich heran. »Sag bloß, du hast dich verliebt?«
»Na ja, also, ich weiß nicht so genau. Aber ein bisschen Herzklopfen kriege ich schon, wenn ich sie sehe. Genau genommen ziemlich viel Herzklopfen.«
Wenn er es könnte, würde Herr Beck in wieherndes Gelächter ausbrechen, das sehe ich ihm genau an. So allerdings muss er sich auf etwas beschränken, das wie ein heiseres Fauchen klingt.
»Cherie? Golden Retriever? Oh, Mann, Herkules, die ist doch mindestens doppelt so groß wie du! Wenn nicht dreimal! «
Er rollt sich vor Vergnügen auf dem Boden herum. Irgendwie hatte ich mir von einem guten Freund eine andere Reaktion erhofft.
»Also, ich weiß wirklich nicht, was daran so komisch ist. Sicher, ich bin kleiner, aber eigentlich bin ich doch auch ein Jagdhund und da …«
Es klingelt an der Wohnungstür. Nanu? Ganz schön spät für Besuch. Wahrscheinlich haben Carolin und Marc nur den Schlüssel vergessen. Nina läuft in den Flur, um zu öffnen, ich folge ihr.
Aber vor der Tür stehen nicht Marc und Carolin. Sondern eine Frau, die ich noch nie zuvor gesehen habe.
Ich habe sie wirklich noch nie gesehen. Da bin ich mir ganz sicher. Und trotzdem riecht sie irgendwie vertraut. Seltsam. Wie kann das sein? Nina scheint es interessanterweise ähnlich zu gehen. Kommt ihr die Frau auch bekannt vor? Sie schaut hin, schaut kurz wieder weg, überlegt, schaut nochmal hin. Dann öffnet sie die Tür ein Stück weiter.
»Ja, bitte?«
Die fremde Frau macht einen Schritt nach vorne. Der vertraute Geruch weht mir nun direkt in die Nase. Es riecht ein bisschen nach … hm … nach … Luisa!
»Hallo. Ich bin Sabine. Sie müssen Carolin sein. Darf ich reinkommen?«
»Marc ist nicht da«, beeilt sich Nina zu sagen.
»Schade.« Die Frau denkt kurz nach. »Wobei – vielleicht ist es auch gar nicht schlecht, wenn wir beide uns mal unterhalten.«
Hey, Nina, vergiss es! Du bist doch gar nicht Carolin. Und das ist auch gar nicht deine Wohnung – willst du diese Fremde wirklich reinlassen? Ich merke, wie sich jede Muskelfaser in meinem Körper anspannt. Lass! Sie! Nicht! Rein!, würde ich am liebsten laut rufen. Stattdessen muss ich mich aufs Knurren beschränken. Dackel sind zwar eigentlich Jagdhunde, aber vielleicht sorgt der Terrieranteil in mir auch für gewisse Wachhundqualitäten.
Die fehlen Nina leider völlig. Sie zögert nur kurz, dann öffnet sie die Tür ganz. Die Frau betritt unseren Flur und schaut sich fragend um. Ich bleibe bei der Tür stehen und mustere sie aus den Augenwinkeln. Sie ist groß und schlank und hat dunkle, gelockte Haare, genau wie Luisa. Warum sagt Nina dieser Sabine nicht einfach, dass sie heute Abend nur der Babysitter ist, und schmeißt sie dann raus?
»Kommen Sie doch bitte mit ins Wohnzimmer. Hier entlang.«
»Ich weiß. Meine Schwiegereltern haben hier früher gelebt. « Der letzte Satz kommt schnell und scharf. Sehr scharf. Meine Nackenhaare beginnen, sich zu sträuben. Diese Frau ist gefährlich, das ist eindeutig. Hoffentlich ist sie nicht bewaffnet, immerhin hat sie eine sehr große Handtasche dabei. Ich halte mich jetzt dicht an Nina, bereit, sie sofort zu verteidigen.
Noch allerdings geht die Frau nicht in eine Angriffshaltung über. Sie mustert Nina.
»Komisch. Ich hatte Sie mir ganz anders vorgestellt.«
Kein Wunder. Das ist ja auch gar nicht Carolin. Nina, was ist los mit dir? Klär das auf, und zwar bevor sie dich anfällt und niederschlägt. Riechst du die Gefahr etwa nicht?
Natürlich nicht. Stattdessen geht sie ins Wohnzimmer vor und bietet der Frau mit einer Handbewegung einen Platz auf dem Sofa an. Wozu haben Menschen eigentlich eine Nase im Gesicht? Die ist komplett überflüssig. Ich habe mir das schon öfter gedacht. Meistens stört es mich nicht – jeder hat eben seine Schwächen. Aber gerade im Moment regt es mich schon auf, dass Nina diesen stechend aggressiven Duft, der die Frau umweht, so gar nicht wahrnimmt.
Wer allerdings auch nichts wahrnimmt, ist Herr Beck. Der liegt nach wie vor auf dem Sofa. Ist anscheinend eingeschlafen. Himmel, bin ich hier denn der Einzige, der den Ernst der Lage erkannt hat? Nur zwei Türen weiter schläft Luisa friedlich in ihrem Bett. Was, wenn die Fremde, die behauptet, Sabine zu sein, unser Kind rauben will?
Nina setzt sich neben Herrn Beck, der tatsächlich angefangen hat zu schnarchen. Ich lege mich vor ihre Füße. Von hier aus habe ich die potentielle Angreiferin genau im Blick, sie hat sich nämlich in den Sessel gegenüber vom Sofa gesetzt.
»Womit kann ich Ihnen denn helfen?«, beginnt Nina das Gespräch betont freundlich.
»Sie haben keine eigenen Kinder, oder?«
Ha! Ich hab’s gewusst! Es geht um Luisa! Nina schaut schwer irritiert. Klar, die Frage nach eigenen Kindern würde auch die Dackelin krummnehmen. Klingt glatt so, als ob man ihr unterstellt, nicht für die Zucht geeignet zu sein.
»Äh, nein, noch nicht.«
»Dann können Sie auch nicht wissen, wie sich das anfühlt.«
»Was denn?«
»Wenn das eigene Kind zu einer fremden Frau zieht. Das kann sich niemand vorstellen, der es noch nicht erlebt hat.«
Nina legt den Kopf schief.
»Na ja, ich habe zwar keine Kinder, aber ich bin Psychologin, also da …«
»Ach? Ich dachte, Sie seien Geigenbauerin. Hat Marc jedenfalls behauptet.«
»Natürlich … äh … richtig. Ich meinte damit nur, dass ich auch mal ein paar Semester Psychologie studiert habe. Nach meiner Ausbildung, weil es mich so interessiert hat.«
Sabine zieht die Augenbrauen hoch, und Ninas Gesichtsfarbe wird deutlich dunkler. Lügen ist eben gar nicht so einfach. Als Hund sowieso nicht, aber auch als Mensch muss man so einiges beachten, damit man nicht auffliegt. Trotzdem machen sie es sehr oft. Also, ich meine: lügen. Der alte von Eschersbach wurde seinerzeit nicht müde, die Schlechtigkeit von lügenden Menschen hervorzuheben, und anfangs hat es mich auch schwer irritiert, wenn ich einen Menschen dabei erwischt habe. Aber mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es ein wichtiger Bestandteil menschlicher Kommunikation ist und die meisten Menschen die ein oder andere Lüge in ihrem Alltag fest einkalkulieren. Mit einer kleinen Lüge hier und da schummeln sie sich so durch, es macht ihr Leben einfacher.
Ninas Lüge scheint mir aber ein ganz anderes Kaliber zu sein. Nicht die Sorte Ich war schon mit dem Hund draußen oder Natürlich habe ich beim Zahnarzt angerufen . Immerhin tut sie einfach so, als sei sie ein anderer Mensch. Ich frage mich nur, warum? Sie könnte doch auch einfach zugeben, der Babysitter zu sein, und dann wären wir vermutlich auch schnell diese unangenehme Frau los.
»Auf alle Fälle muss ich mit Marc sprechen, wie es nun weitergeht. Denn so geht es nicht weiter, das steht schon mal fest. Ich habe neulich versucht, mit ihm am Telefon darüber zu sprechen, aber da hat er mir einfach den Hörer aufgelegt. Hat er Ihnen das erzählt?«
Aha, das Telefonat im Park. Nun bin ich auf einmal doch ganz Ohr.
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Das wundert mich nicht. Marc ist so ein konfliktscheuer Idiot. Deswegen bin ich jetzt nach Hamburg geflogen. Ich habe mir extra zwei Tage freigenommen.«
»Was ich nicht ganz verstehe – es war doch eigentlich auch Ihre Idee, dass Luisa zu uns zieht. Wo ist denn jetzt das Problem?«
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