»Gut, dass Sie gleich gekommen sind. Wo ist das Tier denn?«
»Sie liegt bei mir auf dem Rücksitz, mein Auto steht direkt vor der Tür. Ich habe solche Angst um sie!«
»Frau Serwe, ich sehe sie mir sofort an.«
Und ich komme mit! Ich lasse dich nicht allein, Cherie! Auf keinen Fall.
Ich hatte schon fast vergessen, wie sie riecht. Oder vielleicht hatte ich es auch verdrängt, um nicht ständig an sie zu denken. Und jetzt liegt sie hier, direkt vor mir, und als Frau Serwe die Autotür noch ein bisschen weiter öffnet, werde ich von dem Geruch regelrecht überrollt. Sofort ist er wieder da, der Tag an der Alster – Cherie und ich auf dem Steg, ihr spöttisches Lachen, ihre Berührungen, ihr federnder Gang. Mein Herz fängt an zu rasen, und ich muss mich kurz schütteln, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen.
Von der Rückbank höre ich ein leises Wimmern, es klingt kläglich und auch ängstlich. Ich dränge mich noch weiter nach vorne, versuche, mit meinen Vorderläufen ins Wageninnere zu kommen. Das gelingt mir auch, und so reiche ich mit meiner Schnauze fast bis zum Polster der Bank. Von hier aus kann ich Cheries Kopf sehen. In ihr wunderschönes blondes Haar hat sich Blut gemischt, das sich wie ein dünnes Rinnsal vom Ohr bis zu ihrer Nasenspitze zieht.
Marc beugt sich nach vorne in den Wagen.
»Wie ist das passiert?«
»Ich wollte heute vor dem Büro noch eine kurze Runde mit ihr drehen. Wir kommen aus der Haustür – und werden fast von einem Fahrradkurier über den Haufen gefahren. Der war auf dem Bürgersteig unterwegs und so schnell, dass sich Cherie wahnsinnig erschreckt hat. Ich mich ehrlich gesagt auch. Aber Cherie ist auf die Straße gesprungen. Genau vor ein Auto. Die Fahrerin konnte nicht mehr bremsen und hat sie noch seitlich erwischt. Cherie ist richtig durch die Luft geflogen.« Claudia Serwe fängt wieder an zu weinen. »Ich dachte schon, sie sei tot.«
Marc legt seinen Kopf auf Cheries Brustkorb.
»Also, ihr Atem ist sehr flach, aber einigermaßen regelmäßig. « Er greift mit einer Hand an die Innenseite ihres Hinterlaufs und wartet einen Moment. »Hm, der Puls ist sehr schnell, schätze mal ungefähr hundert Schläge pro Minute. Das ist viel für einen so großen Hund, aber noch nicht dramatisch. Ich habe in der Praxis eine Trage, damit können wir Cherie in den Untersuchungsraum transportieren, ohne sie unnötig zu bewegen. Bin gleich wieder da.«
Er zieht seinen Kopf aus dem Wagen und verschwindet ins Innere des Hauses. Claudia Serwe geht um das Auto herum und holt irgendetwas von ihrem Sitz. Ich nutze die Gelegenheit und hüpfe jetzt ganz ins Wageninnere. Vorsichtig lege ich meine Schnauze neben Cheries Kopf.
»Alles wird wieder gut, bestimmt! Marc ist ein toller Arzt, mach dir keine Sorgen.«
Cherie versucht den Kopf in meine Richtung zu drehen. »Wer bist du?«
»Herkules. Der Dackel, den du aus der Alster gerettet hast.«
Sie fängt an zu schnaufen, dann stöhnt sie.
»Werden die Schmerzen schlimmer?«, will ich besorgt wissen.
»Nein. Ich hätte nur fast gelacht, und das tut weh.«
Also, wenn sie ihren Sinn für Humor noch hat, besteht Hoffnung. Ein gutes Zeichen!
»Dieser blöde Radfahrer. Ich habe ihn echt nicht gesehen. Er war so schnell. Dann wollte ich zur Seite springen – und ab da kann ich mich an nichts mehr erinnern.«
»Du bist unter ein Auto gekommen. Aber dein Frauchen hat dich gleich zu Marc gefahren. Und der wird dich bestimmt schnell wieder auf die Beine bringen.«
»Dein Optimismus ehrt dich, Kleiner. Momentan fühlt es sich nur leider nicht so an. So mit schnell auf die Beine bringen , meine ich.«
Marc kommt mit der Trage an, das heißt, er rollt an. Seine Trage hat nämlich ausklappbare Beine mit Rollen, was sie nun entfernt wie einen Einkaufswagen aussehen lässt.
»Herkules, tröstest du unsere Patientin ein bisschen? Bist ein guter Hund, aber jetzt musst du mal zur Seite gehen, sonst kriege ich Cherie nicht auf die Trage gehoben.«
Er taucht Richtung Rückbank, nimmt Cherie behutsam auf den Arm und legt sie dann auf die blanke Metallfläche der Trage. Claudia Serwe stellt sich daneben und streichelt Cherie vorsichtig.
»Schh, schh, wird alles wieder gut, meine Süße.«
Marc rollt die Trage Richtung Praxiseingang. Hier, auf dem Bürgersteig, stehen auch Carolin und Luisa. Obwohl ich selbst sehr aufgeregt bin, sehe ich, dass Luisa zittert.
»Papa, was ist denn mit dem armen Hund?«
»Er ist von einem Auto angefahren worden. Ich muss ihn untersuchen, um festzustellen, wie schwer seine Verletzungen sind.«
»Und wird er wieder ganz gesund werden?«
»Ich tue mein Bestes, Schatz.«
»Soll ich irgendwie helfen? Der Hund tut mir so leid.«
»Das ist ganz lieb, Luisa, aber am meisten hilfst du mir, wenn du jetzt zur Schule gehst. Zu viele aufgeregte Menschen sind auch nicht gut für unsere tierische Patientin.«
Luisa nickt und setzt den Schulranzen auf, der schon neben ihr steht. Marc wendet sich an Carolin.
»Sag mal, ist Frau Warnke denn noch nicht da? Es ist doch bestimmt schon nach acht Uhr, oder?«
Carolin nickt.
»Ja, gleich Viertel nach.«
»Mist. Wo bleibt die denn? Sie müsste längst da sein. Sie soll mir jetzt assistieren, und gleich beginnt auch die normale Sprechstunde.«
»Kann ich dir vielleicht helfen?«
Marc überlegt kurz. »Ja, wenn es dir nichts ausmacht, wäre das gut.«
Im Behandlungsraum rollt Marc ein kleines Schränkchen neben die Trage.
»So, Frau Serwe, ich mache jetzt einen Ultraschall von Cheries Brustraum und Unterbauch, um innere Verletzungen auszuschließen. Dann versorge ich die Platzwunde am Kopf, die muss ich wahrscheinlich nähen. Meine Frau wird mir dabei assistieren. Wären Sie so freundlich und würden so lange im Wartezimmer Platz nehmen?«
Frau Serwe nickt. »Ja, sicher. Aber sagen Sie mir gleich Bescheid, wenn Sie etwas klarer sehen?«
»Natürlich.«
»Soll ich den Dackel mitnehmen?«
»Nein, der stört mich eigentlich nicht, und Ihren Hund scheint er eher zu beruhigen. Nach der Nummer an der Alster bilden die beiden ja offensichtlich so eine Art Schicksalsgemeinschaft.«
Er lächelt schief, was Frau Serwe erwidert. Dann geht sie ins Wartezimmer. Marc zieht einen langen, dicken Stab aus dem Schränkchen.
»So, hier oben ist der Schallkopf«, erklärt er Carolin, »damit werde ich jetzt Brustkorb und Bauchraum schallen, damit wir uns die gute Cherie von innen mal genauer ansehen können.«
Unglaublich – mit diesem Stab kann sich Marc Cherie von innen anschauen? Hoffentlich muss er dafür nicht ein Loch in sie bohren. Ich merke, dass mir unwohl wird. Nicht, dass Marc Cherie noch mehr weh tut – wo ich ihr doch versprochen habe, dass Marc ihr helfen wird. Als könne er meine Gedanken lesen, streichelt Marc Cherie einmal kurz über den Rücken.
»Ganz ruhig, meine Liebe, das tut nicht weh. Carolin, bleib bitte oben beim Kopf stehen und halte sie am Halsband fest, falls sie aufspringen will. Ich kann ihr wegen der Kopfverletzung leider gerade keinen Maulkorb anlegen. Also sei ein bisschen vorsichtig.«
»Was hältst du denn davon, wenn wir Herkules neben sie setzen? Ich hatte auch den Eindruck, dass er sie beruhigt.«
Marc kratzt sich am Kopf.
»Hm, ja, warum nicht. Wir können es probieren, vielleicht funktioniert es.«
Er hebt mich nun ebenfalls auf die Trage, so dass ich direkt neben Cheries Kopf sitze, dann klappt er die Türen des Schränkchens auf – zum Vorschein kommt ein Fernseher. Aha? Was passiert denn jetzt?
»Ich konzentriere mich vor allem auf Lunge, Milz und Leber. Bei Unfällen mit Autos sind innere Verletzungen an diesen Organen leider häufig. Der Hund kann daran verbluten. Eigentlich müsste ich Cherie für ein besseres Bild vorher rasieren, aber hier am Bauch ist ihr Fell etwas dünner. Und wenn sich aus den ersten Bildern kein entsprechender Verdacht ergibt, würde ich ihr das gerne ersparen. So, ich trage erst ein wasserhaltiges Gel auf, damit die Schallwellen auch wirklich bis zu den Organen vordringen und nicht unterwegs verloren gehen. Vorsicht, Cherie, jetzt wird’s erst ein bisschen kalt am Bauch, und dann lege ich los.«
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