Mrs. Rubin war eine grauhaarige, dickliche Frau von derber Freundlichkeit. Sie trug ein Hauskleid mit blauer Schürze darüber und schwarze flache Schuhe, die über den geschwollenen Zehenballen kräftig ausgebeult waren. »Ziehen Sie sich aus«, sagte sie.
»Alles?«
»Alles«, sagte Mrs. Rubin ohne zu lächeln. »Können Sie die broches?«
»Ja. Zumindest hab ich sie vorhin noch gekonnt.«
»Ich laß Ihnen das da - Sie können sich's noch einmal ansehen.« Sie zog ein hektographiertes Blatt aus der Tasche und legte es auf den Tisch, dann verließ sie die Kammer.
Hänger gab es keine. Leslie hängte ihre Kleider über die Stuhllehne, setzte sich und wartete. Der Sitz war sehr glatt. Sie nahm den Zettel zur Hand und studierte ihn.
Gelobt seist du, Gott unser Herr, Herr der Welt, der uns geheiligt hat durch seine Gebote und uns geboten hat das Tauchbad.
Gelobt seist du, Gott unser Herr, Herr der Welt, der uns das Leben gegeben und erhalten hat und uns diese große Stunde erreichen ließ.
Amen.
Während sie noch die broches memorierte, kam Mrs. Rubin zurück und zog eine kleine Nagelschere aus ihrer Schürzentasche. »Zeigen Sie Ihre Hände«, sagte sie.
»Ich hab die Nägel schon kurz geschnitten«, sagte Leslie und zeigte sie Mrs. Rubin voll Stolz; aber die schnipselte trotzdem noch ein winziges Stückchen von jedem Nagel. Dann entfaltete sie ein frisches Leintuch, breitete es über Leslies Nacktheit, drückte ihr Seife und Badetuch in die Hand und führte sie in einen benachbarten Duschraum mit sieben Kabinen.
»Wasch dich, mein kind«, sagte sie.
Leslie hängte das Leintuch an einen Wandhaken und wusch sich, obwohl sie am Abend zuvor gründlich geduscht und erst zwei Stunden zuvor nochmals lange in der Badewanne gesessen hatte. Durch eine zweite Tür konnte sie, während sie duschte, ein Bassin sehen, dessen ruhiges Wasser, schwer wie Blei, unter dem gelben Licht einer nackten Glühbirne glänzte. Rabbi Gross hatte ihr in einem seiner Vorträge erklärt, daß die Juden das rituelle Tauchbad schon seit Jahrtausenden gepflogen hatten, ehe Johannes der Täufer diese Zeremonie übernommen hatte. Ursprünglich hatte man in Seen und Flüssen gebadet, denn das Wasser der mikwe mußte natürliches Wasser sein.
Heute, da die mikwe in Häusern untergebracht war - dem größeren Bedürfnis des modernen Menschen nach Zurückgezogenheit folgend -, sammelte man Regenwasser in Trögen auf den Dächern und leitete es in ein gekacheltes Bassin. Dieses stehende Wasser wurde schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit schal und unappetitlich. Deshalb gab es neben dem Regenwasserbassin ein zweites, das dauernd mit Frischwasser aus der städtischen Wasserleitung versorgt und auf angenehme Temperatur gebracht wurde. jedesmal, sobald dieses zweite Bassin vollgelaufen war, wurde ein kleiner Stöpsel in der Trennwand zwischen den beiden Becken herausgezogen, so daß sich die zweierlei Wasser für den Bruchteil einer Sekunde miteinander vermischen konnten. Das, versicherte Rabbi Gross seiner Schülerin, heilige das Leitungswasser, ohne seinen Bakteriengehalt zu erhöhen. Trotzdem betrachtete Leslie, während sie duschte, den Wasserspiegel voll Mißtrauen; sie mußte sich eingestehen, daß sie die Sache nicht werde durchstehen können, sollte das Wasser einen irgendwie schmutzigen Eindruck machen.
Mrs. Rubin erwartete sie schon, als sie aus der Kabine kam. Diesmal holte sie aus ihrer Schürzentasche einen kleinen Schildpattkamm hervor.
Sie ließ ihn langsam durch Leslies lange Haare gleiten und zog ein wenig, wenn er sich in einem Knoten verfing. »Nichts darf das Wasser von Ihrem Körper abhalten«, sagte sie. »Heben Sie die Arme.«
Leslie gehorchte demütig, und die Frau untersuchte ihre ausrasierten Achselhöhlen. »Kein Haar«, sagte sie, wie ein Kaufmann, der Inventur macht. Dann, mit einem eindeutigen Hinweis ihres Zeigefingers, reichte sie Leslie den Kamm.
Einen Augenblick lang verharrte Leslie ungläubig, keiner Bewegung mächtig. »Muß das wirklich sein?« fragte sie hilflos.
Mrs. Rubin nickte. Leslie handhabte den Kamm, ohne hinzusehen, und spürte das Blut in ihre Wangen und die Tränen in ihre Augen steigen.
»Kommen Sie«, sagte die Frau schließlich und hängte ihr das Leintuch wieder um die Schultern.
Über einen schwarzen Kautschukläufer ging es vom Duschraum zum Bassin. Auf der obersten der drei Stufen, die ins Wasser führten, ließ Mrs. Rubin das Mädchen warten und ging zur Tür
am anderen Ende des Beckens. Sie öffnete und steckte den Kopf hinaus. Leslie spürte einen Luftzug von der Tür her, die in den Hinterhof der Synagoge führte.
»Jetzt«, rief Mrs. Rubin. »Sie ist fertig.«
Leslie hörte die Stimmen der Rabbiner, die sich auf jiddisch unterhielten, während sie sich dem Eingang näherten. Mrs. Rubin ließ die Tür nur einen Spaltbreit offen und kam zu dem Mädchen zurück.
»Wollen Sie den Zettel mit den Gebeten haben?« »Ich kann die Gebete«, sagte Leslie.
»Sie müssen ganz untertauchen und dann die Gebete sagen. Das ist der einzige Anlaß, bei dem man die broche nach der Handlung sagt und nicht vorher. Und zwar deshalb, weil das Tauchbad Sie von jeder früheren Religion reinigt; erst nachher können Sie als Jüdin zu Gott beten. Sie werden wahrscheinlich ein paarmal untertauchen müssen, damit auch sicherlich alles gut naß wird. Sie sind doch nicht wasserscheu?«
»Ich bin nicht wasserscheu.«
»Dann ist's gut«, sagte Mrs. Rubin und nahm ihr das Leintuch ab.
Leslie schritt die Stufen hinunter. Das Wasser war warm. In der Mitte des Beckens reichte es ihr gerade an die Brust. Sie hielt inne und blickte hinein. Es schien rein und klar, und der weißgekachelte Boden schimmerte zitternd herauf. Nun schloß sie die Augen und tauchte unter, mit angehaltenem Atem, setzte sich auf den gekachelten Boden und spürte die Fugen der Kachelung auf der nackten Haut. Danach erhob sie sich prustend und sprach mit zitternder Stimme die Gebetsformeln.
»Amen«, echote Mrs. Rubin, und Leslie konnte das Amen der Rabbiner durch den Türspalt hören. Mrs. Rubin beschrieb mit beiden Armen eine Abwärtsbewegung, wie ein Sportfunktionär, der seiner Mannschaft Zeichen gibt, und Leslie tauchte erneut unter, diesmal schon gefaßter. Es war so einfach, daß sie das Lachen ankam. Da saß sie nun im Wasser, mit flutendem Haar, und fühlte sich auf wunderbare Weise um die körperliche und geistige Last erleichtert und gereinigt von der Schuld eines
zweiundzwanzigjährigen Lebens. Gewaschen im Blut des Lammes, dachte sie benommen und kam wie ein Fisch von unten herauf.
Meine lieben Kinder, dachte sie, hört zu, und ich will euch erzählen, wie eure Mama eine jüdische Seejungfrau geworden ist, und das ist eine lange Geschichte. Und sie sprach die broche diesmal schon mit mehr Selbstsicherheit. Aber Mrs. Rubin war noch immer nicht zufrieden, abermals stießen ihre Arme nach unten, und Leslie tat es ihnen nach. Beim dritten Untertauchen behielt sie die Augen offen und spähte hinauf zu der leuchtenden Glühbirne über dem Becken, und es war ihr, als schwebte Gottes Auge über den Wassern. Sie tauchte abermals auf, etwas außer Atem, spürte ihre Brustwarzen fest werden in der kalten Zugluft, die durch den Türspalt kam, hinter welchem die Rabbiner zuhörten, und diesmal sprach sie die Gebete mit froher Gewißheit.
» Masel-tow «, sagte die alte Mrs. Rubin, legte Leslie, der beim Heraussteigen das Wasser von den Hüften troff, das Leintuch wieder um und küßte sie auf beide Wangen.
Dann stand sie im Büro des Rabbiners, weggeschwemmt alles Make-up, das Haar strähnig und naßkalt im Nacken, und mit einem Gefühl, als wäre sie soeben im Davenport-Becken des Colleges zehn Längen geschwommen. Der Rabbiner, der ihr den Kaffee angeboten hatte, lächelte ihr zu.
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