»Könnte bitte jemand dieses Kind von hier wegschaffen?«, sagt eine Elfe ins Mikrofon. « »Könnten bitte die Eltern dieses Kindes umgehend auf die Bühne kommen?«
»Ich hab sie nur eine Sekunde losgelassen!«, verteidigt sich Mum, während Luke und ich Richtung Rentier hechten. »Sie ist mir entwischt!«
»Okay, Minnie«, sagt Luke entschlossen, als er die Bühne betritt. »Schluss mit lustig.«
»Schlitten!« Sie klettert darauf. »Mein Schlitten!«
»Das ist kein richtiger Schlitten, und du kommst jetzt da runter!« Er fasst Minnie um die Taille und zieht, aber sie hat ihre Beine hinterm Sitz verhakt und hält sich mit Superheldenkräften fest.
»Würden Sie sie bitte herunternehmen?«, sagt die Elfe mit einem Mindestmaß an Höflichkeit.
Ich nehme Minnie bei den Schultern.
« Okay«, raune ich Luke zu. »Du nimmst die Beine. Wir reißen sie los. Bei drei. Eins-zwei-drei ... (, Oh, nein. Oh ... Scheiße. Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Ich weiß nicht, was wir gemacht haben. Aber der ganze verfluchte Schlitten kollabiert. Alle Geschenke fallen herunter, mitten in den Kunstschnee. Bevor ich zwinkern kann, stürzt sich die ganze Kinderhorde darauf, um sich die Gaben zu schnappen, während ihre Eltern schreien, sie sollen zurückkommen, aber sofort, Daniel, sonst gibt es nichts zu Weihnachten!
Es ist das reinste Tohuwabohu. »Schenk!«, heult Minnie, streckt die Arme aus und trampelt gegen Lukes Brust.« ,Schenk!«
»Schaffen Sie das verdammte Kind hier weg!«, bricht es zornig aus der Elfe hervor. Ihr Blick schweift böse über mich und Mum, und selbst über Janice und Martin, die aus heiterem Himmel aufgetaucht sind, beide in festlichen Pullis mit Rentieren darauf und voll bepackt mit Tüten vom WeihnachtsDiscountshop. »Ich möchte, dass Sie und Ihre Familie auf der Stelle den Laden verlassen!«
»Aber wir sind als Nächstes dran«, erwidere ich kleinlaut. »Es tut mir wirklich schrecklich leid wegen des Rentiers, und wir bezahlen den Schaden ... «
»Absolut«, stimmt Luke mit ein.« Und meine Tochter wünscht sich doch so sehr, den Weihnachtsmann zu treffen ...«
»Ich fürchte, wir haben da eine kleine Regel«, sagt die Elfe sarkastisch. »Kinder, die den Schlitten des Weihnachtsmanns kaputt machen, haben das Recht auf einen Besuch verwirkt. Ihre Tochter ist hiermit vom Besuch der Weihnachtsmannwerkstatt ausgeschlossen.«
» Ausgeschlossen?« Bestürzt starre ich sie an. »Sie meinen ... « »Besser gesagt: Das gilt für Sie alle!« Mit dunkelrot lackiertem Fingernagel deutet sie zur Tür.
»Na, das ist ja eine tolle Weihnachtsstimmung!«, wirft Mum ein. »Wir sind hier treue Kunden, und Ihr Schlitten war offensichtlich Stümperwerk. Am liebsten würde ich Sie der Gewerbeaufsicht melden!«
»Hinaus!« Die Elfe steht noch immer da, mit ausgestrecktem Arm.
Tief beschämt nehme ich die Griffe des Buggys. Schweigend traben wir hinaus und sehen, wie uns Dad in seiner wasserdichten Jacke entgegeneilt, das ergrauende Haar ein wenig zerzaust. »Hab ich es verpasst? Hast du den Weihnachtsmann gesehen, Minnie, Liebchen?«
»Nein.« Ich bringe es kaum fertig, es zuzugeben. »Wir wurden aus der Weihnachtsmannwerkstatt verbannt.« Dads Miene sackt in sich zusammen.
»Ach, du je. Oh, Liebes.« Er seufzt schwer. »Nicht schon wieder!«
»Mh-hm.«
»Wie oft jetzt schon?« , fragt Janice und verzieht das Gesicht.
»Vier Mal.« Ich sehe zu Minnie hinunter, die jetzt brav dasteht, Lukes Hand hält und wie ein kleiner Engel aussieht. »Was ist diesmal passiert?«, fragt Dad. »Sie hat den Weihnachtsmann doch nicht gebissen, oder?«
»Nein«, sage ich trotzig. »Natürlich nicht!«
Die ganze Sache mit dem Beißen vom Weihnachtsmann bei Harrods war ein totales Missverständnis. Und deren Weihnachtsmann war auch ein echter Waschlappen. Er hätte nicht gleich in die Notaufnahme gehen müssen.
»Luke und ich waren schuld. Wir haben den Schlitten demoliert, als wir sie vom Rentier holen wollten.« »Ah.« Dad nickt wissend, und wir wenden uns trübsinnig dem Ausgang zu. »Minnie ist ein echter kleiner Wildfang, was?«, sagt Janice nach einer Weile vorsichtig. »Du kleiner Racken«, sagt Martin und kitzelt Minnie unterm Kinn. »Du hältst einen ordentlich auf Trab.«
Vielleicht bin ich überempfindlich. Aber irgendwie trifft mich dieses ganze Gerede vom »in Trab halten« und »Rackern« und »Energiebündeln« an einem wunden Punkt.
»Du willst doch wohl nicht behaupten, dass Minnie verwöhnt ist, oder?«, sage ich plötzlich und komme auf dem Marmorboden abrupt zum Stehen. »Mal ehrlich.«
Janice holt tief Luft. »Na ja«, sagt sie und wirft Martin einen Blick zu, als bräuchte sie Unterstützung. »Ich wollte ja eigentlich nichts sagen, aber ...«
»V erwöhnt?« Mum schneidet ihr mit einem kleinen Lachen das Wort ab.« Unsinn! Mit Minnie ist alles in Ordnung, oder, Schätzchen? Sie weiß nur, was sie will!« Liebevoll streichelt sie Minnies Haar, dann blickt sie wieder auf. »Becky, Liebes, du warst in ihrem Alter genauso. Ganz genauso. «
Augenblicklich entspanne ich mich. Mum sagt immer das Richtige. Ich sehe zu Luke hinüber, doch zu meiner Überraschung erwidert er mein erleichtertes Lächeln nicht. Er sieht aus, als plage ihn ein neuer, beunruhigender Gedanke.
»Danke, Mum.« Ich umarme sie liebevoll. »Du machst immer alles wieder gut. Komm, lass uns nach Hause gehen!«
Bis Minnie im Bett liegt, hat sich meine Laune gebessert. Tatsächlich ist mir richtig festlich zumute. Darum geht es doch beim Weihnachtsfest. Glühwein und Pastetchen und White Christmas im Fernsehen. Wir haben Minnies Strumpf aufgehängt (traumhafter roter Gingharn aus dem Conran Shop) und dem Weihnachtsmann ein Glas Sherry hingestellt, und jetzt sind Luke und ich im Schlafzimmer und packen ihre Geschenke ein.
Mum und Dad sind wirklich großzügig. Sie haben uns das ganze Obergeschoss des Hauses überlassen, sodass wir doch einiges an Privatsphäre genießen. Der einzige Nachteil ist der kleine Kleiderschrank. Aber das macht nichts, denn ich habe auch den Schrank im Gästezimmer übernommen und außerdem alle meine Schuhe in den Bücherborden auf dem Treppenabsatz einsortiert. (Die Bücher habe ich in Kisten gepackt. Die liest doch sowieso keiner mehr.)
Außerdem habe ich eine Kleiderstange in Dads Arbeitszimmer aufgehängt und ein paar Hutschachteln in der Waschküche gestapelt. Und mein versammeltes Make-up steht auf dem Esstisch, der genau die richtige Größe hat. Im Grunde ist er wie dafür gemacht. Meine Wimperntusche passt in die Messerschublade, meine Glätteisen passen perfekt auf das Beistellwägelchen, und meine Zeitschriften stapeln sich auf den Stühlen.
Außerdem habe ich ein paar winzige Kleinigkeiten in der Garage verstaut, etwa meine alten Stiefel und diese beiden wunderschönen alten Truhen, die ich aus einem Antiquitätenladen habe, außerdem eine Power-Plate (die ich bei eBay gekauft habe und unbedingt endlich mal benutzen muss). Ich fürchte, da drinnen wird es langsam etwas eng, aber Dad stellt sein Auto ja sowieso nie in die Garage, oder?
Nachdem Luke ein Puzzle eingepackt hat, nimmt er eine Zaubertafel in die Hand. Stirnrunzelnd sieht er sich im Zimmer um.
»Wie viele Geschenke kriegt Minnie eigentlich?«
»Nur das Übliche« , sage ich eher defensiv.
Obwohl ich ehrlicherweise zugeben muss, dass ich selbst etwas perplex war. Ich hatte ganz vergessen, wie viel ich im Laufe des Jahres in Katalogen und auf Handwerksmärkten gefunden und dann gebunkert hatte.
»Die hier ist pädagogisch wertvoll.« Hastig reiße ich das Preisschild von der Zaubertafel. »Und sie war echt billig. Nimm noch etwas Glühwein!« Ich schenke ihm ein Glas ein, dann greife ich mir einen roten Hut mit zwei glitzernden Bommeln. Er ist einfach zu süß, und es gab ihn auch in Babygrößen.
Читать дальше