Als sie wieder auf der Route 128 waren und der Wagen sich in die Nacht hinein in die Richtung bohrte, aus der sie gekommen waren, berührte sie seinen Arm.
»Wir könnten der Beginn einer neuen Generation sein«, sagte sie.
Er nickte und lächelte. Dann schlief er ein.
Als er erwachte, überquerten sie soeben die SagamoreBrücke.
»Wo zum Teufel sind wir?«
»Wir hatten unsere Freizeit schon arrangiert«, sagte sie. »Es schien mir zu schade, einfach heimzufahren und die freien Tage zu verschwenden.«
»Aber wohin fahren wir?«
»An einen mir bekannten Ort.«
Er schwieg wieder und ließ sie fahren. Fünfundvierzig Minuten später waren sie in Truro, dem Wegweiser zufol-ge, der kurz aufleuchtete, als sie den Wagen von der Route 6 weg und auf eine Straße nach Cape Cod lenkte, zwei Wagenspuren aus weißem Sand, zwischen denen ein Streifen Riedgras wuchs. Sie fuhren eine kleine Anhöhe hinauf, und rechts, hoch über ihnen, tastete ein sich drehender Lichtfinger den schwarzen Himmel am Rand des Meeres ab. Plötzlich war der Lärm der Brandung da, als hätte ihn jemand mit einem Schalter angedreht.
Der Wagen rollte ganz langsam dahin. Er wußte nicht, was sie suchte, aber sie fand es schließlich und lenkte das Auto von der Straße weg. Er sah nichts als tintenschwarze Nacht, aber als sie ausstiegen, vermochte er die massigere Dunkelheit eines kleinen Hauses zu erkennen.
Ein sehr kleines Gebäude, ein Bauernhaus oder eine Hütte.
»Hast du einen Schlüssel?«
»Es gibt keinen Schlüssel«, sagte sie. »Es ist von innen verriegelt. Wir gehen durch den Geheimeingang.«
Sie führte ihn hinten herum, und kleine Föhren zerrten mit unsichtbaren Fingern an ihnen. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, sah er bei näherer Untersuchung. »Zieh fest an den Brettern«, sagte sie.
Er tat es, und die Nägel glitten so leicht heraus, als wären sie es gewohnt. Sie schob das Fenster hoch und schlüpfte über das niedrige Fensterbrett hinein. »Gib auf deinen Kopf acht«, sagte sie.
Er schlug sich ihn trotzdem an, an der oberen Schlafkoje. Das Zimmer war nicht viel größer als ein Wandschrank und ließ seine Kammer im Krankenhaus im Vergleich dazu geräumig erscheinen. Die derben Holzkojen nahmen den meisten Platz ein, so daß man gerade knapp zur Tür durchgehen konnte. Die nackten Glühbirnen leuchteten auf, wenn man an Schnüren zog. Es waren noch zwei andere Kammern vorhanden, ganz ähnlich der, durch die sie eingedrungen waren; ein winziges Badezimmer mit Dusche, aber ohne Wanne; ein Mehrzweckraum mit Kücheneinrichtung, ein altersschwacher Schaukelstuhl und ein mottenzerfressenes Sofa voller Beulen und Gruben. Der Zimmerschmuck war klassischer Cape-Cod-Stil: Meeresmuscheln als Aschenbecher, ein Hummerkorb als Kaffeetisch, Seeigel und Seesterne auf dem Kaminsims, eine gebrauchsfertige Angelrute lehnte in einer Ecke, in einer anderen stand ein Gasherd, den sie fachmännisch in Gang setzte und mit Leichtigkeit anzündete.
Er stand schwankend da. »Was kann ich tun?« fragte er.
Sie sah ihn an und erkannte zum erstenmal, wie müde er war. »O Gott«, sagte sie. »Adam, es tut mir so leid.« Sie führte ihn zu einer unteren Koje, zog ihm die Schuhe aus, deckte ihn zärtlich mit einer braunen Wolldecke zu, die ihn am Kinn kitzelte, küßte ihn auf die Augen, schloß ihm damit die Lider und ließ ihn allein, damit er im Tosen der Brandung versinken konnte.
Endlich erwachte er beim Tuten von Nebelhörnern, das wie ein ungeheures Magenknurren klang, dem Duft und Gebrutzel von Essen und dem Gefühl, daß er im Zwischendeck auf einem sehr kleinen Schiff reiste. Ein rauchiger Nebel trübte das Fenster und machte es stumpf wie die Augen eines kleinen Waisenmädchens.
»Ich habe gehofft, daß du lange schläfst«, sagte sie, den Speck wendend. »Aber ich bin so verdammt hungrig geworden, daß ich zu dem Laden am Campingplatz um Lebensmittel fahren mußte.«
»Wem gehört diese Hütte?« fragte er und sah sich schon samt Gaby wegen Einbruchs verhaftet.
»Mir. Sie wurde mir als kleines Legat von meiner Großmutter vermacht. Mach dir keine Sorge, wir sind legal hier.«
»Jesus, eine Erbin.«
»Es gibt viel heißes Wasser aus einem guten Boiler«, sagte sie stolz. »Zahncreme ist im Schränkchen.«
Die Dusche stellte seine Begeisterung wieder her, aber der Inhalt der Hausapotheke dämpfte sie wieder. Da lag ein Ding, von dem er zuerst fürchtete, daß es eine Birn-spritze sei, das sich aber als Klistierspritze herausstellte, daneben Arzneien, Nasentropfen und Augentropfen, Aspirin und schmerzstillende Mittel verschiedenster Art, sowie ein Durcheinander von Vitaminen, unbeschrifteter Pillen und Fläschchen, die Ansammlung einer Hilf-dir-selbst-Apotheke einer pillensüchtigen Neurotikerin.
»Gott«, sagte er verdrießlich, als er auftauchte, »willst du mir einen Gefallen tun?«
»Was für einen?«
»Diesen ... Mist in deinem Schränkchen wegschmeißen.«
»Ja, Herr Doktor«, sagte sie zu nachgiebig.
Sie frühstückten Pfirsiche aus der Dose, Speck und Eier und tiefgekühlte Maiskolben, die am Toaster kleben blieben und als Krümel gegessen werden mußten.
»Du machst den besten Kaffee der Welt«, sagte er in milderer Stimmung.
»Spezielle Kenntnis der Kaffeebraukunst. Ich habe ein Jahr lang allein hier gelebt.«
»Ein ganzes Jahr? Du meinst, den ganzen Winter hindurch?«
»Gerade im Winter. Unter solchen Umständen kann eine gute Tasse Kaffee absolut lebensrettend sein.«
»Warum wolltest du dich verkriechen?«
»Nun, ich will es dir sagen. Man hat mich sitzengelassen.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
»Der verdammte Narr.«
Sie lächelte. »Danke, Adam. Das ist sehr lieb.«
»Es ist mein Ernst.«
»Nun, wie dem auch sei. Zusammen mit meinem nicht gerade idealen Verhältnis zu meinen Eltern - mit dem du etwas vertraut geworden bist - bin ich echt gemütskrank geworden. Ich glaubte, was für einen Thoreau gut war, müsse für alle gut sein. Also nahm ich einige Bücher und bin hergekommen. Um die Dinge zu Ende zu denken. Um herauszufinden, wer ich wirklich bin.«
»Hast du das? Herausgefunden, meine ich.«
Sie zögerte. »Ich glaube ja.«
»Dann bist du zu beneiden.«
Er half ihr beim Geschirrspülen. »Es sieht so aus, als wären wir eingenebelt«, sagte er, als sie die Tassen aufstapelten.
»O nein. Hol dir eine Jacke. Ich will dir etwas zeigen.«
Vor der Hütte führte sie ihn über einen Pfad, der in der niedrigen, dichten Vegetation fast nicht zu erkennen war. Adam erkannte Lorbeer und hie und da eine blattlose Strandpflanze. Der Nebel war so dicht, daß Adam nur die nächsten paar Schritte weit und den schönen Schwung ihrer Hüfte in den enganliegenden Blue jeans direkt vor sich sehen konnte.
»Weißt du auch, wohin du gehst?«
»Ich könnte mit geschlossenen Augen gehen. Vorsicht jetzt. Langsam. Wir sind fast da.«
Die Klippe, an deren Rand sie stehenblieben, schien senkrecht in die Tiefe zu fallen. Der Nebel stand wie eine
Wand vor ihnen, aber er spürte den Abgrund unter ihnen -trotz des dichten Nebels -, der in Adams Phantasie grauenerregend war, ähnlich dem, in den er sich einst, um Geld in Bensons Aquacade zu machen, vom Dreißig-Meter-Turm stürzte.
»Ist es steil? Und tief?«
»Sehr steil. Und ziemlich tief. Es erschreckt alle, wenn sie ihn zum erstenmal sehen. Aber es ist ungefährlich. Ich komme hinunter, wenn ich mich niedersetze und mit dem Hintern auf einer kleinen Erdscholle hinunterfahre.«
»Na, kein übles Fahrzeug.«
Sie grinste, nahm es als Kompliment. Während er sich nervös in einiger Entfernung hinter sie setzte, ließ sie die Füße über den Rand der Klippe baumeln und sog mit geschlossenen Augen den kalten salzigen Nebel ein.
Читать дальше