Er besann sich wie üblich, um seine Worte richtig zu wägen, und brachte dann vor: »Man sagt, dein Bruder…«
»Ich bin nicht mehr minderjährig«, wies ich ihn zurecht.
»Habe ich dich verärgert?« lachte er. »Entschuldige!«
Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Durrejja… Leichter Regen tröpfelte, und ich wünschte mir einen heftigen Schauer, der die Menschen vom Platz gefegt hätte. Meine Liebe! Glaub es nicht! Ein kluger Mann hat früher einmal gesagt, daß wir manchmal lügen müssen, um andere von unserer Aufrichtigkeit zu überzeugen.
Wieder schaute ich meinen Freund an, der mir so viel Furcht einflößte.
»Kümmerst du dich denn um gar nichts mehr?« fragte er mich jetzt.
Ich mußte lachen oder besser, hätte beinah laut aufgelacht: »Solange ich lebe, muß ich mich schließlich um bestimmte Dinge kümmern«, entgegnete ich.
»Und worum zum Beispiel?«
»Ja, siehst du denn gar nicht, daß ich mich rasiert habe und einen Schlips trage?«
Ernst fragte er: »Und worum noch?«
»Hast du schon den neuen Film im Metro gesehen?«
»Das ist eine gute Idee! Sehen wir uns also einen kapitalistischen Film an!«
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Madame Mariana stattete mir in meinem Zimmer einen Höflichkeitsbesuch ab. »Fehlt Ihnen etwas? Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen? Sagen Sie es offen! Ihr Bruder hat das immer getan, und er war ein kluger Mann. Außerdem war er groß und stark, ein richtiger Riese. Sie sind zart und so ebenmäßig gebaut, aber auch Sie sind stark. Betrachten Sie die Pension Miramar als Ihr Haus und mich als Ihre mütterliche Freundin, als Ihre Freundin im vollsten Sinne des Wortes!«
Natürlich war sie nicht wegen dieser Höflichkeitsfloskeln und Schmeicheleien gekommen, oder vielmehr, sie waren für sie nur Mittel zum Zweck. Sie war zu mir gekommen, um in einem Gespräch Anerkennung und Selbstbestätigung zu finden. So erzählte sie mir aus freien Stücken die Geschichte ihres Lebens. Erzählte, wie sorglos und verwöhnt sie aufgewachsen war, erzählte von ihrer ersten Liebe und Ehe mit einem britischen Captain, ihrer zweiten Ehe mit dem Kaviar-König vom Ibrahimijja-Palais. Dann von der Zeit des sozialen Abstiegs, aber wieso eigentlich sozialer Abstieg? Schließlich war dies in den Tagen des Zweiten Weltkriegs eine Pension für feine Herren, für Paschas und Beys gewesen.
Sie forderte mich auf, ich solle ihr ebenfalls die Geheimnisse meines Lebens anvertrauen, und überhäufte mich mit Fragen. Eine fremde Frau, unterhaltsam, anstrengend, eine verblühende Frau. Ich hatte sie nie als die Königin der Salons erlebt, die sie gewesen war, aber ich konnte sie mir in dieser Rolle vorstellen, sah sie in der Gesellschaft strahlender Schönheiten und harter Tyrannen. Leider lernte ich sie jetzt erst kennen, lernte sie kennen als ein Wrack, das sich verzweifelt bemühte, an der Oberfläche zu bleiben.
Am Frühstückstisch machte ich die Bekanntschaft der übrigen Gäste. Es war eine sonderbare Familie, deren Mitglieder sich gegenseitig abstießen. Aber ich brauchte Unterhaltung. So überwand ich den Drang, mich in mein Zimmer zurückzuziehen. Vielleicht würde ich ja auf einen späteren Freund, einen künftigen Gefährten treffen? Warum eigentlich nicht? Amir Wagdi und Tolba Marzuq konnte ich allerdings getrost übergehen, die gehörten zu einer Generation, die abgetreten war. Aber was war mit Sarhan al-Buheri und Husni Allam? Sarhans Augen strahlten natürliche Anziehungskraft aus, und er war, wie mir schien, freundlich trotz seiner unangenehmen Stimme. Doch was mochte er für Interessen haben? Und der andere? Husni Allam? Der ging mir auf die Nerven, jedenfalls im ersten Moment. Sein Schweigen und seine Zurückhaltung wirkten arrogant. Sein kräftiger Körperbau, sein hocherhobener, großer Kopf und die Art, wie ein Herrscher von Gottes Gnaden auf seinem Stuhl zu thronen, ärgerten mich. Ja, ein Herrscher, aber ohne Reich und ohne allen Besitz. Vielleicht ließ er sich auch erst herbei, sich mit jemandem zu unterhalten, wenn er festgestellt hatte, daß der andere noch unbedeutender war als er selbst. Zum Trost sagte ich mir: Wer seine Mönchszelle verläßt, muß sich darauf einstellen, mit gemeinen Kerlen zusammenzuleben. Wie gewöhnlich überkam mich der Wunsch, mich von den Fremden auf mich selbst zurückzuziehen. Aber was sie dann sagen, was sie denken würden?
Früher einmal hatte ich auf diese Weise die Chance meines Lebens verpaßt.
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Ich war erstaunt, als ich Sarhan al-Buheri in mein Büro im Rundfunkgebäude kommen sah. Er strahlte, als wären wir alte Freunde. Dann schüttelte er mir herzlich die Hand und erklärte: »Ich bin hier ganz zufällig vorbeigegangen, und da habe ich mir gesagt, ich will doch einmal guten Tag sagen und ein Täßchen Kaffee mit ihm trinken.«
Ich hieß ihn willkommen und ließ Kaffee bringen. Er sagte: »Eines Tages werde ich Sie in Anspruch nehmen, um mich in die Geheimnisse des Rundfunks einweihen zu lassen.«
Mit tausend Freuden, Mann, der du mit anderen Männern auf altehrwürdigen Bänken vor dörflichen Häusern geplaudert hast, was mir nie vergönnt gewesen ist!
Kurz, er berichtete mir von seiner Arbeit in der Spinnerei-Gesellschaft von Alexandria, seiner Mitgliedschaft im Verwaltungsrat und in der Grundeinheit der Arabischen Sozialistischen Union.
»Was für lobenswerte Aktivitäten«, schmeichelte ich ihm, »durchaus ein Vorbild für alle Indifferenten!«
Er blickte mich prüfend an. »Das ist eben unsere Art, sich am Aufbau einer neuen Welt zu beteiligen.«
»Haben Sie eigentlich schon vor der Revolution an den Sozialismus geglaubt?«
»Tatsache ist, daß mein Glaube an ihn mit ihr erwuchs.«
Es hätte mich gereizt, mit ihm über seinen Glauben zu debattieren, aber ich hielt mich zurück.
Das Gespräch kam auf die Pension. Er sagte: »Das ist schon eine kuriose Familie, von der man nicht genug bekommen kann!«
»Und Husni Allam?« fragte ich zögernd.
»Auch er ist ein kluger junger Mann.«
»Er wirkt wie eine Sphinx.«
»Das ist nur äußerlich, aber eigentlich ist er charmant, und außerdem hat er eine eingefleischte Vorliebe fürs Randalieren.« Wir mußten alle beide lachen. Ihm war nicht bewußt, daß er mich mehr mit sich selbst als mit dem anderen vertraut machte.
Warnend fuhr er fort: »Er stammt aus einer angesehenen Familie, ist beschäftigungslos, und man kann sicher sagen, daß er auch keinerlei Abschlußzeugnisse für irgendeine Ausbildung besitzt. Verlieren Sie das nicht aus den Augen!«
»Er besitzt hundert Feddan Land«, sprach er in seinem vorsichtigen und allwissenden Tonfall weiter. »So stand er in vorderster Front. Und er hat keinen akademischen Abschluß. Den Rest können Sie sich denken!«
»Warum hält er sich eigentlich in Alexandria auf?«
»Er ist ein kluger Bursche und sucht nach einem einträglichen kommerziellen Projekt.«
»Erst einmal muß er seine arrogante Miene ablegen, sonst laufen ihm die potentiellen Kunden davon.« Dann kam es mir plötzlich in den Sinn, ihn danach zu fragen, warum er eigentlich in die Pension gezogen war, obwohl er Alexandria schon lange kannte.
Er gab nach kurzem Nachdenken zur Antwort: »Ich ziehe eine Pension voller Menschen einer Wohnung in der Stadt für mich allein vor.«
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Die Nacht mit den Liedern von Umm Kulthum. Eine Nacht voller Wein und Fröhlichkeit. In ihr fielen die Schleier von den verborgensten Winkeln unserer Seelen.
Sarhan al-Buheri kam das Verdienst zu, sich am intensivsten von uns allen für den Abend eingesetzt zu haben, aber er beteiligte sich wohl auch am wenigsten an den Unkosten.
Ich warf Tolba Marzuq verstohlene Blicke zu, die niemand hätte deuten können. Ja, ich war von sehr persönlichen Erinnerungen aufgewühlt, Erinnerungen an blutige Träume, an Szenen von Klassenkämpfen, an Bücher und Versammlungen. Ein ganzes festgefügtes Gedankengebäude stand mir vor Augen. Die Aufgedunsenheit und der Verfall dieses Mannes erschreckten mich, die Bewegungen seiner Bäckchen, wie er da so ergeben in seinem Sessel kauerte. Wie er sich der Revolution andiente, ohne an sie zu glauben. Als hätte er nie zu einer Familie gehört, die ihre Paläste aus Blut und Tränen anderer Menschen errichtet hatte. Jetzt war die Reihe an ihm zu heucheln, nachdem das Zerbröckeln seines früheren Ruhms eine ganze Nation von Heuchlern hervorgebracht hatte. Husni war nur ein Flügel dieses Adlers, den seine Kräfte verlassen hatten. Aber es war ein Flügel, der immer noch flattern, gelegentlich sogar fliegen konnte.
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