Und jetzt war da diese Frau, diese Mutter, mit ihrem herzzerreißend erwartungsvollen schiefen Lächeln und der kaum versteckten Hoffnung in den Augen. Ich zuckte ein wenig zusammen angesichts der machtvollen Position, die mir gewährt worden war, und das nur, weil ich in der genetischen Lotterie gewonnen hatte, die mein Geschlecht bestimmte.
Ich vermochte nie in den Augen des Generals zu lesen, aber über seine Frau wusste ich eins ganz gewiss: Sollte ich einen Widersacher bei dieser Angelegenheit haben — welcher Natur auch immer »diese Angelegenheit« sein mochte —, so wäre es ganz bestimmt nicht sie.
»Setzen Sie sich, Amir jan«, forderte sie mich auf. »Soraya, bachem, hol ihm einen Stuhl. Und wasche einen der Pfirsiche. Sie sind süß und frisch.«
»Nein, vielen Dank«, sagte ich. »Ich sollte mich auf den Weg machen. Mein Vater wartet.«
»Ach ja? Wie schade«, sagte Khanum Taheri, offensichtlich beeindruckt, dass ich mich für die höfliche Variante entschieden und das Angebot abgelehnt hatte. »Dann nehmen Sie zumindest das hier.« Sie warf eine Hand voll Kiwis und einige Pfirsiche in eine Papiertüte und bestand darauf, dass ich sie nahm. »Richten Sie Ihrem Vater viele Grüße von mir aus. Und kommen Sie bald wieder einmal vorbei.«
»Das werde ich. Vielen Dank, Khala jan«, sagte ich. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass Soraya zur Seite blickte.
»Ich dachte, du wolltest uns zwei Colas holen«, sagte Baba und nahm mir die Tüte mit dem Obst aus der Hand. Er bedachte mich mit einem Blick, der ernst und schelmisch zugleich war. Ich wollte gerade etwas erfinden, aber er biss in einen Pfirsich und winkte abwehrend mit der Hand. »Schon gut, Amir. Vergiss aber nicht, was ich dir gesagt habe.«
In jener Nacht dachte ich im Bett daran, wie das gesprenkelte Sonnenlicht in Sorayas Augen getanzt hatte, und an die zarten Vertiefungen über ihrem Schlüsselbein. Ich ging unsere Unterhaltung in meinem Kopf immer wieder durch. Hatte sie gesagt: Wie ich hörte, schreiben Sie selbst oder: Wie ich hörte, sind Sie Schriftsteller? Ich war mir nicht sicher. Ich wälzte mich im Bett herum und starrte zur Decke hinauf — wie sollte ich nur die kommenden sechs schweren, endlosen yelda- Nächte überstehen, bis ich sie endlich wiedersah?
So ging es einige Wochen weiter. Ich wartete, bis sich der General zu einem Spaziergang aufmachte, und schritt dann am Stand der Taheris vorbei. Wenn Khanum Taheri da war, bot sie mir Tee und ein kolcha an, und wir unterhielten uns über das Kabul der Vergangenheit, über Menschen, die wir kannten, über ihre Arthritis. Sie hatte zweifellos bemerkt, dass mein Auftauchen immer mit der Abwesenheit ihres Mannes zusammenfiel, aber sie ließ es sich nie anmerken. »Oh, wie schade, Sie haben Kaka gerade verpasst«, sagte sie nur. Es gefiel mir sogar, wenn Khanum Taheri da war, und das nicht nur wegen ihrer freundlichen Art; Soraya war viel lockerer, redseliger, wenn sich ihre Mutter in der Nähe aufhielt. Als ob deren Anwesenheit alles, was zwischen uns geschah, legitimierte — wenn auch nicht in der gleichen Weise, wie es die Gegenwart des Generals getan hätte. Khanum Taheri als unsere Anstandsdame machte unsere Treffen wenn nicht klatschsicher, so doch weniger klatschenswert, auch wenn das beinahe schon einschmeichelnde Verhalten, das sie mir gegenüber an den Tag legte, Soraya ganz offensichtlich peinlich war.
Eines Tages standen Soraya und ich allein an ihrem Stand und unterhielten uns. Sie erzählte mir von ihrem Studium am Ohlone Junior-College in Fremont.
»Ich möchte einmal Lehrerin werden«, sagte sie.
»Wirklich?«, fragte ich. »Warum?«
»Das wollte ich schon immer. Als wir noch in Virginia gewohnt haben, habe ich die Englisch-Prüfung für Nicht-Muttersprachler bestanden und unterrichte jetzt einmal in der Woche einen Kurs in der Stadtbibliothek. Meine Mutter ist auch Lehrerin gewesen, sie hat an der Zarghoona-Mittelschule für Mädchen in Kabul Farsi und Geschichte unterrichtet.«
Ein spitzbäuchiger Mann mit einer Sherlock-Holmes-Mütze auf dem Kopf bot drei Dollar für einen Satz Kerzenhalter, der eigentlich fünf Dollar wert war, aber Soraya willigte ein. Sie ließ das Geld in eine kleine Bonbondose zu ihren Füßen fallen und blickte mich schüchtern an. »Ich würde Ihnen gern eine kleine Geschichte erzählen«, sagte sie, »aber sie ist mir ein bisschen peinlich.«
»Nur zu. Erzählen Sie.«
»Eigentlich ist sie irgendwie albern.«
»Bitte tun Sie mir den Gefallen.«
Sie lachte. »Also, als ich in Kabul ins vierte Schuljahr ging, da stellte mein Vater eine Frau namens Ziba ein, die im Haus helfen sollte. Sie hatte eine Schwester im Iran, in Mashad, und da Ziba Analphabetin war, bat sie mich ab und zu, ihrer Schwester einen Brief zu schreiben. Und wenn die Schwester antwortete, las ich Ziba ihre Briefe vor. Eines Tages fragte ich sie, ob sie gern lesen und schreiben lernen würde. Sie blickte mich mit ihrem strahlenden Lächeln an, bei dem sie immer tausend Fältchen um die Augen bekam, und erwiderte, dass das ganz wunderbar wäre. Also setzten wir uns, wenn ich mit meinen Hausaufgaben fertig war, an den Küchentisch, und ich brachte ihr das Alef-beh bei. Ich weiß noch, wie ich manchmal von meinen Hausaufgaben aufblickte und Ziba in der Küche beobachtete, wie sie das Fleisch im Topf wendete und sich dann mit einem Bleistift hinsetzte, um ihre eigenen Hausaufgaben zu machen, die ich ihr am Abend vorher gegeben hatte. Jedenfalls konnte Ziba innerhalb eines Jahres Kinderbücher lesen. Wir saßen draußen im Garten, und sie las mir — langsam zwar, aber korrekt — die Geschichten von Dara und Sara vor. Sie fing an, mich Moalema Soraya zu nennen, Lehrerin Soraya.« Sie lachte wieder. »Ich weiß, dass es kindisch klingt, aber als Ziba ihren ersten Brief schrieb, da wusste ich, dass ich unbedingt Lehrerin werden wollte. Ich war so stolz auf sie, und ich hatte das Gefühl, etwas wirklich Wertvolles getan zu haben, verstehen Sie?«
»Ja«, log ich. Ich dachte daran, wie ich meine Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, ausgenutzt hatte, um Hassan lächerlich zu machen. Wie ich ihn bei schwierigen Wörtern, die er nicht kannte, aufgezogen hatte.
»Mein Vater möchte, dass ich Jura studiere, meine Mutter lässt immer wieder Bemerkungen über ein Medizinstudium fallen, aber ich werde auf jeden Fall Lehrerin. Das wird hier zwar nicht besonders gut bezahlt, aber es ist genau das, was ich möchte.«
»Meine Mutter war auch Lehrerin«, sagte ich.
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Das hat mir meine Mutter erzählt.« Dann wurde sie rot, weil sie damit ausgeplaudert hatte, dass »Amir-Gespräche« zwischen ihnen stattfanden, wenn ich nicht da war. Ich musste mich ungeheuer beherrschen, um mir ein Lächeln zu verkneifen.
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Ich fischte die zusammengerollten Seiten aus meiner Gesäßtasche. »Wie versprochen.« Ich reichte ihr eine meiner Kurzgeschichten.
»Oh, du hast es also nicht vergessen«, sagte sie und strahlte förmlich. »Vielen Dank!« Mir blieb kaum genug Zeit, zu registrieren, dass sie mich zum ersten Mal mit »tu« angesprochen hatte und nicht mit dem förmlichen »shoma«, denn ihr Lächeln erstarb. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, und ihre Augen richteten sich auf etwas hinter meinem Rücken. Ich drehte mich um. Blickte in das Antlitz von General Taheri.
»Amir jan. Unser angehender Geschichtenerzähler. Was für ein Vergnügen«, sagte er mit einem schwachen Lächeln.
»Salaam General Sahib«, sagte ich mit schweren Lippen.
Er schritt an mir vorbei auf seinen Stand zu. »Was für ein wundervoller Tag, nicht wahr?«, sagte er, den Daumen in die Brusttasche seiner Weste eingehakt, die ande re Hand in Sorayas Richtung ausgestreckt. Sie reichte ihm die Seiten.
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