Ich saß vor dem Herd und starrte ins Leere. Wie Wasser floss das Mondlicht durch Fenster und Türritzen herein. Im Schummerlicht des Herdfeuers zirpten zwei Grillen; sie erzählten mir von Traurigkeit und Einsamkeit. Da hörte ich aus dem Pferdetrog ein bitteres Lachen. Ich schnellte hoch und schaute hinüber. Da lag der Meister doch mit dem Gesicht himmelwärts im Trog. Weil der zu kurz war, hielt er seine Beine im Schneidersitz überkreuz und hatte die Arme über der Brust verschränkt. Er machte einen friedvollen und gelassenen Eindruck. Auf seinem Antlitz lag ein ruhiges Lächeln. Wenn man genau hinschaute, sah man, dass er schlief. Er musste wohl im Traum so bitter gelacht haben.
Ihr wisst vielleicht, dass wir in Nordost-Gaomi ein paar Genies haben, die unter schweren Schlafstörungen leiden, der mit Namen Leber ist zwar kein echtes Genie, hat aber diese Krankheit auch. Leidet ihr beiden eigentlich auch an einer Schlafstörung?«
Ich und Kleiner Löwe schauten einander an. Wir schüttelten den Kopf: »Wir haben so was nicht. Sobald der Kopf das Kissen berührt, beginnen unsere Nasen mit den typischen Schlafgeräuschen, und wir sind im Reich der Träume. Wir sind keine Genies.«
»Es ist nicht so, dass die Schlaflosen alle Genies wären. Aber umgekehrt leiden die Genies hier fast alle unter dieser Krankheit«, meinte Leber.
Gugus Schlafstörung war berühmt im ganzen Dorf: Nach Mitternacht, wenn alles schlief, konnte man weit draußen im Freien eine rauchige Stimme singen hören. Gugus Gesang. Während sie des Nachts stundenlang umherstreifte, knetete Große Hand Niwawa-Kinder. Die Schlafstörung der beiden war zyklisch und verschlimmerte oder verbesserte sich mit den Mondphasen. Bei Vollmond war gar nicht an Schlafen zu denken, bei Neumond fanden sie Ruhe.
Deswegen nannte Yang Stattlich, der gern anderen Ehrungen verschafft, die von Hao Große Hand stammenden Tonkinder Mondlichtkinder und rief sogar das regionale Fernsehen, das den Meister filmte, wie er in einer milchigweißen Vollmondnacht im Mondschein Kinder modelliert.
»Habt ihr die Sendung im Fernsehen nicht gesehen? Wenn nicht, nicht tragisch! Die Sendung lief als erste Folge der Reihe Legendäre Persönlichkeiten Nordost-Gaomis . Sie begann mit den Mondlichtkindern , damit wollte man Zuschauer für diese Reihe gewinnen. Die zweite Folge trug den Namen Der Großmeister im Pferdetrog , die dritte Das außergewöhnliche Redetalent , die vierte Die Sängerin bei den Froschkonzerten . Wenn ihr die Folgen der Reihe sehen wollt, sagt mir Bescheid, ein Anruf beim Sender genügt, und sie bringen die DVD vorbei. Die ungeschnittenen Fassungen! Ich werde ihnen empfehlen, noch eine Folge mit euch abzudrehen. Den Titel habe ich mir schon ausgedacht: Einhalt und Umkehr der Heimgekehrten .«
Ich und Kleiner Löwe blickten uns an und lachten. Wir wussten, dass mit Wang Leber mal wieder die Lust am Fabulieren durchgegangen war. Wir mussten ihn nicht entlarven. Wozu auch? Viel lieber wollten wir ihm weiter zuhören.
Leber fuhr fort: »Nach jahrelanger Schlaflosigkeit war der Großmeister nun endlich im Pferdetrog eingeschlafen, fest und tief, wie ein sorgloser Säugling. Wie das Neugeborene aus dem hölzernen Pferdetrog, den uns der Fluss vor Jahren zugeführt hatte. Ich war von Qin Stroms Anblick so ergriffen, dass mir die Tränen kamen. Nur wer selbst an Schlaflosigkeit leidet, weiß um die Qual des Wachliegens, nur wer die Schlaflosigkeit kennengelernt hat, weiß die Süße des Schlafs zu würdigen. Ich blieb neben dem Trog, hielt Wache, hielt den Atem an aus Angst, ein Geräusch zu machen und ihn womöglich wieder aus dem Schlaf zu reißen. Die Tränen verschleierten meinen Blick. Es war mir, als läge ein schmaler Weg zu meinen Füßen, zu beiden Seiten stünde das Gras hoch in der Aue, Wildblumen blühten in allen Farben und schwängerten die Luft mit ihrem süßen Duft, Schmetterlinge flatterten, Bienen summten und ein Ton würde mich locken. Es war der Gesang einer Frau mit einer tiefen, rauchigen Stimme, sie war mir so vertraut und so lieb. Ihr Gesang lockte mich immer weiter in die Aue. Ihren Oberkörper sah ich nicht, nur bis zur Taille erblickte ich sie, einen üppigen, ausladenden, ja ballonförmigen Hintern, schlanke Waden, rosige Fersen und zarte Fußabdrücke, die ihre Füße im nassen Sand hinterlassen hatten. Sie waren unfassbar deutlich. Sogar die Papillarleisten der Fußsohlen konnte man im Sand erkennen. Ich bin ihr gefolgt, immer weiter, der Pfad schien kein Ende zu nehmen ... Allmählich spürte ich, dass ich mit dem Meister zusammen unterwegs war, wann und von woher er gekommen war, blieb mir unklar. Wir folgten den rosigen Fersen durch die Aue, bis wir den Rand eines Moores erreichten. Der Wind trug aus dessen Mitte den Geruch von fauligem Gras und Matsch herüber. Zu unseren Füßen wuchsen Seggen und Riedbüschel, in einiger Entfernung sah man hohes Schilfrohr, Kalmus und Rohrkolben, viele Binsen und andere wundersame Pflanzen, deren Namen ich nicht kenne. Aus der Mitte des Moors hörte man Kinderstimmen ausgelassen lachen und lärmen. Die Frau, die nur bis zur Taille zu sehen war, rief mit ihrer betörend schönen Stimme über das Moor:
Ihr großen und kleinen
Dämonen und Geister!
In Goldner Robe mit jadenem Gürtel!
Erfuhrt ihr Güte,
gebt sie zurück und seid dankbar!
Ist man sie euch schuldig geblieben,
treibt eure Schulden ein!
Kaum war sie zu Ende, liefen ganze Heerscharen kleiner Nackedeis herbei, alle nur mit einem roten Lätzchen bekleidet. Manche hatten mitten auf dem Kopf einen einzelnen Zopf, der nach oben abstand, manche hatten den Kopf kahlgeschoren, manche den traditionellen Drei-Backstein-Kopf mit drei Haarzipfeln auf dem geschorenen Schädel, und alle riefen freudig durcheinander, während sie auf die Stimme zustürmten. Die Kleinen schienen nicht gerade leicht zu sein, denn die elastische Oberfläche des Moores wippte auf und ab, als sie darüberrannten. Ein wenig sahen sie aus wie eine Horde Kängurus.
Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – umringten mich und den Meister. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – umklammerten unsere Beine, kletterten uns auf die Schultern, packten uns an den Ohren, hielten unsere Haare fest, hauchten uns an den Hals. Einige sabberten uns in die Augen. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – warfen uns zu Boden und krabbelten auf uns herum. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – wühlten im Matsch und machten Matschebatzen, die sie uns auf den Körper schmierten. Die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – beschmierten sich dann selbst mit Matsche ... Und später, ich erinnere mich nicht, wie viel Zeit dazwischen vergangen sein mochte, wurden die Bübchen – natürlich auch die Mädchen – plötzlich ganz still. Sie umringten uns in einem Halbkreis. Von denen, die sich vor uns befanden, hatten sich einige auf den Bauch gelegt, andere saßen, wieder andere knieten, manche hielten das Kinn in beide Hände gestützt, manche knabberten an den Fingernägeln, manche hatten den Mund aufgesperrt. Sie sprühten vor Leben in allen nur möglichen Posen. Krass! Als stünden sie dem Meister Modell!, schoss es mir durch den Kopf. Ich bemerkte, dass der Meister längst begonnen hatte zu arbeiten. Er studierte ein Kind, und während er das tat, nahm er vom Boden einen Erdbatzen auf und begann zu kneten. Es wurde ein nach dem lebenden Abbild geschaffenes Tonkind. Als er mit dem ersten fertig war, guckte er sich ein weiteres Kind aus, und erneut nahm er einen Batzen Matsch und begann zu kneten. Wieder schuf er ein lebensechtes Tonkind ...
Der Hahn krähte. Ich erschrak bis ins Mark und war sofort wach. Ich war auf der Kante des Pferdetrogs eingeschlafen, aus meinem Mundwinkel war Spucke auf den Brustlatz des Meisters getropft.
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