»Ich kann rhetorisch nicht mit dir mithalten«, entgegnete ich nur. »Sag mal, sind die Tonpuppen wirklich von Qin Strom?«
»Wie kommst du darauf, dass das nicht stimmen könnte?«, fragte Leber verwundert. »Also, dass die Kinder bei Vollmond und Flötenspiel tanzen, das war übertrieben. Aber dass Qin Strom sie mit geschlossenen Augen modelliert, das ist hundertprozentig wahr. Wenn du da Zweifel hegst, dann komm mit und schau es dir an, sobald du mal ein bisschen Zeit hast.«
»Ist Qin Strom jetzt bei uns im Dorf gemeldet?«
»Heutzutage? Was heißt es da noch, eine Meldebescheinigung zu beantragen und sich da niederzulassen, wo der Wohnsitz registriert wurde? Das ist Firlefanz von gestern! Heute bleibst du da, wo es dir passt.«
Wang Leber fuhr fort: »Wo deine Tante wohnt, da wohnt auch Qin Strom. Seine hartnäckige Liebesverblendung bezüglich Gugu ist einmalig auf der Welt. Und in der Unterwelt!«
Kleiner Löwe hielt ein hübsches Tonkind in den Armen, eines ohne Schlitzaugen mit hohem Nasenrücken, es ähnelte einem europäisch-chinesischen Mischlingsbaby:
»Dieses Kind möchte ich.«
Ich musterte es. Ich hatte ein vages Gefühl, genauer gesagt ein Déjà-vu! Ich kannte es. Woher kannte ich das Mädchen? Wer war es? Himmel! Es war Galles Tochter Chen Augenbraue! Gugu und Kleiner Löwe hatten die Kleine ein halbes Jahr bei sich gehabt, dann hatten sie die kleine Augenbraue ihrem Vater Nase zurückgeben müssen.
Ich erinnerte mich deutlich an den Abend, an dem Chen Nase zu uns kam und seine Tochter zurückverlangte. Es ging auf das Chinesische Neujahr zu, wir feierten gerade das Herdgottfest. Überall waren Böller gezündet worden und die Luft hing voller Rauchschwaden und Salpetergeruch.
Kleiner Löwes Antrag auf Familiennachzug war vom Militär bereits bewilligt worden, so dass sie die Kommunekrankenstation verlassen durfte. Nach dem Neujahrsfest wollte ich zusammen mit ihr und Yanyan im Zug nach Peking reisen. In einer großen Wohneinheit der Armee war ein Appartement mit zwei Zimmern frei geworden, das unser neues Heim werden sollte. Mein Vater hatte es abgelehnt mitzukommen. Er hatte seinerzeit auch nicht meinem großen Bruder in die Kreisstadt folgen, sondern auf seinem Grund und Boden bleiben wollen. Nur gut, dass mein Bruder auf Kreis- und Dorfebene arbeitete, da würde er sich jederzeit um Vater kümmern können.
Nach Wang Galles Tod hatte Chen Nase zu trinken begonnen. Oft rannte er in volltrunkenem Zustand weinend und lachend durch die Straßen. Zuerst bedauerte man ihn noch. Mit der Zeit wurde es den Leuten aber zu viel.
Als man Galle polizeilich hatte suchen lassen, um sie wie einen Schwerverbrecher festzunehmen, hatten die Dörfler Lohnzulagen aus Nases Bankguthaben erhalten. Nachdem sie gestorben war, hatten die meisten ihm sein Geld zurückgegeben. Die Kommune hatte ihm danach auch keine Lebenshaltungskosten mehr von seinem Bankguthaben abgezogen, so dass er, großzügig geschätzt, mindestens dreißigtausend Yuan besitzen musste, genug, um sich einige Jahre über Wasser zu halten.
Er hatte den kleinen Säugling Augenbraue, den Gugu und ihre Gehilfin auf die Krankenstation getragen und um dessen Überleben sie erfolgreich gekämpft hatten, so gut wie vergessen, hatte er doch Galle, als er sie schwängerte, dem für sie lebensbedrohlichen Risiko zum zweiten Mal ausgesetzt, um seiner Familie vielleicht doch noch einen männlichen Nachkommen zu bescheren. Als er gesehen hatte, dass alle Mühen umsonst gewesen waren, dass sein zweites Kind, das seine Frau unter diesen wahnsinnigen Umständen zur Welt gebracht hatte, wieder nur ein Mädchen war, hatte er unter Schluchzen wie toll mit beiden Händen auf seinen Gehirnkasten eingetrommelt: »Mit mir ist es aus! Jetzt sterben wir Chens aus!«
Den Vornamen Augenbraue hatte Gugu für seine zweite Tochter ausgesucht. Weil sie ein so hübsch geschnittenes Gesicht hatte und weil sie eine Schwester hatte, die Ohr hieß. Gugu hatte bestimmt: »Augenbraue! So soll sie heißen.«
Kleiner Löwe hatte in die Hände geklatscht und voller Bewunderung gerufen: »Was für ein wunderschöner Name!«
Gugu und Kleiner Löwe hatten Augenbraue adoptieren wollen, aber weil sie Schwierigkeiten hatten, das Kind ins Melderegister eintragen zu lassen, war es auch schwierig mit dem Antrag auf Adoption geworden. Deswegen besaß Augenbraue bis zu dem Zeitpunkt, an dem Chen Nase sie von uns zu Haus wegholte, keine Meldebestätigung im Melderegister. Sie war ein schwarz geborenes Kind ohne Registereintrag, sie gehörte zu den illegitimen Kindern der Chinesischen Volksrepublik.
Wie viele solcher schwarzen Kinder damals in China zur Welt kamen, darüber gibt es keine statistischen Erhebungen, aber es wird sich um eine astronomische Zahl gehandelt haben.
Bei der vierten großen Volkszählung 1990 löste man das Problem der fehlenden Meldebestätigung der schwarz geborenen Kinder so: Man setzte ein Zwangsgeld fest für die überzähligen Kinder , wie sie auch genannt werden – eine astronomisch hohe Summe, die da eingenommen werden sollte! Wie viel Geld genau im Staatssäckel landete, ließ sich damals und lässt sich heute nicht nachvollziehen, denn es gibt darüber keine ordnungsgemäßen Belege.
Welche Anzahl an schwarz geborenen Kindern die Volksmassen in den gerade vergangenen fünfzehn Jahren in die Welt setzten, steht in den Sternen. Es ist wohl anzunehmen, dass es sich erneut um eine gigantische Zahl handelt. Das Zwangsgeld, das man jetzt in solchen Fällen verhängt, ist noch fünfzehnmal höher als das von vor circa zwanzig Jahren. Wenn die nächste allgemeine staatliche Volkszählung wieder die schwarz geborenen Kinder ermittelt und die Regierung dann wieder ein Zwangsgeld gegen die Eltern verhängt, und wenn die Eltern dann in der Lage sein sollten, dieses in Gänze zu zahlen, dann ...
Shizis Mutterinstinkte waren damals vollends erwacht. Sie hatte Augenbraue im Arm gehalten, hatte sie geherzt, ihr stundenlang zugeschaut.
Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie hat sogar versucht, Augenbraue die Brust zu geben. Ich habe damals nämlich bemerkt, dass ihre Brustwarzen sich verändert hatten. Ob sie auch tatsächlich Milch für die kleine Augenbraue hatte, ist ungewiss.
Allerdings hat es derlei Wunder immer mal wieder gegeben. Als ich noch klein war, sah ich ein Theaterstück, das die Geschichte einer Familie erzählte, die plötzlich in Not geraten war. Vater und Mutter waren gestorben, übrig geblieben waren nur die achtzehnjährige Schwester und der in Windeln gewickelte kleine Bruder. In ihrer großen Not hatte die Schwester dem kleinen Bruder ihre jungfräuliche Brust gegeben und wenige Tage später war tatsächlich Milch geflossen.
Derartige Vorfälle sind in der heutigen Zeit natürlich schwer nachvollziehbar.
»Wie soll das angehen, dass die große Schwester schon achtzehn ist, aber der kleine Bruder noch gestillt wird?« Meine Mutter hat auf solche Fragen immer geantwortet: »In früheren Zeiten passierte es öfters, dass Schwiegermutter und Schwiegertochter zu ein und derselben Zeit das Wochenbett hüteten.«
Trotzdem ist es aber gerade heute wieder wahrscheinlich und möglich geworden. Eine Kommilitonin meiner Tochter hat kürzlich eine kleine Schwester bekommen. Ihr Vater besitzt eine Kohlemine und bergeweise Geld. Die Bauern rackern sich als Bergmänner unter Todesgefahr in seiner Grube für ihn ab. Er wohnt in Peking und hat auch in Shanghai, Los Angeles, San Francisco, Melbourne und Toronto Nobelvillen, in denen er mit seinen Zweit- und Drittfrauen Kinder in die Welt setzt. – Ich merke, ich muss mich am Riemen reißen, damit ich nicht abschweife.
Ich erinnere mich wieder an unser Herdgottfest damals. Ich gab gerade eine Portion Teigtäschchen in den Wok mit sprudelndem Wasser, meine Tochter Yanyan klatschte in ihre Händchen und sang:
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