Es hat kaum ein paar Jahre gedauert, da hatte sich unser rückständiges, abgelegenes Nordost-Gaomiland völlig verändert. Beide Ufer unseres großen Flusses hatte man mit weißen, soliden Mauern befestigt. Auf die Grünstreifen an den Ufern hatte man alle möglichen seltenen Blumen und Büsche gepflanzt. Außerdem waren zu beiden Seiten des Flusses an die fünfzehn neue Viertel entstanden. Vielstöckige Plattenbauten wechselten sich ab mit Einzelhäusern im europäischen Stil. Diese Viertel am Flussufer waren inzwischen bis an die Kreisstadt herangewachsen.
Bis zum Flugplatz von Tsingtao waren es nur vierzig Autominuten. Koreanische und japanische Handelsreisende kamen in Scharen, um bei uns in den Bau von Fabriken zu investieren. Der Großteil des Ackerlandes war inzwischen zu Rasen geworden, der zum Golfplatz der Metropolregion Weifang Kiautschou gehörte.
Obwohl man unser Nordost-Gaomi inzwischen in Bezirk Chaoyang umbenannt hat, habe ich die alte Gewohnheit, meine Heimat Nordost-Gaomi zu nennen, nicht abgelegt.
Von dem Viertel, in dem wir nun wohnen, bis zur Froschzuchtfarm sind es zweieinhalb Kilometer. Mein Cousin wollte uns mit dem Auto abholen, aber das schlugen wir aus. Wir nahmen den Fußweg am Flussufer. Als wir dort entlanggingen, begegneten uns ab und an junge Frauen, die ihren Säugling im Kinderwagen spazieren fuhren. Wir gingen unmittelbar aneinander vorüber, denn der Fußweg war schmal. Diese jungen Frauen hatten, eine wie die andere, mit Feuchtigkeitscreme gepflegte Gesichter, einen reservierten Blick, und ihnen entströmte der edle Duft teurer Parfums. Die Babys in den Kinderwagen saugten brav am Schnuller, manche schliefen fest, andere schauten mit ihren schwarzen Knopfäuglein aus dem Wagen. Alle Babys hatten diesen feinen, süßen Babygeruch.
Immer, wenn ein Kinderwagen auf uns zukam, hielt Kleiner Löwe die Leute an, beugte sich mit ihrem üppigen Körper in den Wagen hinunter, streckte ihre Hand nach dem Säugling aus und streichelte die kleinen Patschhändchen und die weichen Gesichtchen. Ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass sie sich mit jeder Faser ihres Herzens an den Babys erfreute.
Eine blonde, blauäugige Ausländerin schob einen Zwillingskinderwagen mit zwei kleinen eurasischen Babys auf uns zu. Die entzückenden Kleinen trugen Seersuckersonnenhütchen und waren niedlich wie zwei Barbiepüppchen. Kleiner Löwe streichelte beide abwechselnd, murmelte leise Worte, ihre Augen wurden feucht.
Ich sah das höflich lächelnde Gesicht der jungen Ausländerin und wie sie dann den Arm ausstreckte und Shizi an der Bluse zupfte: »Passen Sie auf, dass meine Kinder nicht Ihre Spucke aufs Gesicht bekommen!«
Shizi seufzte: »Wie kommt es wohl, dass wir uns früher gar nicht für die Kleinen interessiert haben und sie nun plötzlich so niedlich finden? Das zeigt wohl, dass wir alt geworden sind!«
»Nicht unbedingt!«, meinte die Ausländerin. »Die Kinder sind im Zuge unseres steigenden Lebensstandards auch viel hübscher als früher geworden, ihre Qualität ist sozusagen gestiegen.«
Auf dem Weg trafen wir auch ein paar alte Bekannte von früher. Man schüttelte sich die Hände, redete ein paar Brocken miteinander, pure Höflichkeitsfloskeln, sonst nichts, und beendete diese Kurzgespräche immer mit einem gemeinsamen Seufzer und zwei Sätzen wie: »Alt sind wir geworden!« – »Richtig, die Zeit vergeht wie im Fluge, kaum versieht man sich’s, und es sind wieder zehn Jahre vergangen!«
Auf dem Fluss sahen wir ein buntes Kreuzfahrtschiff gemächlich vorbeiziehen, wie ein sich vorbeischiebendes Ehrentor 15. Der Wind trug besinnliche Musik an unser Ohr, im Inneren des Schiffes konnten wir Musikerinnen in historischen Kostümen chinesische Zither und Hsiao-Flöte spielen sehen, ein Bild wie von einer altchinesischen Seidenmalerei. Ab und an sauste ein Motorboot vorbei, der Bug bäumte sich über dem Wasser auf, so dass die weißen Möwen sich vor den hochspritzenden Wellen erschreckten.
Wir hielten uns an den Händen. Von außen betrachtet, hinterließen wir einen sehr vertrauten Eindruck. Aber jeder von uns war mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt. Kleiner Löwe mochte vielleicht an die niedlichen Kinder denken, mir tauchten vor dem geistigen Auge die zwanzig Jahre alten Bilder von der furchtbaren Verfolgungsjagd auf, die mir immer noch Herzklopfen verursachten.
Wir gingen auf dem Bürgersteig der brandneuen, gerade fertiggestellten großartigen Schrägseilbrücke und überquerten den breiten Kiaulai. Es gab unter den Autos, die die Brücke passierten, viele BMWs oder Mercedes Benz, stromlinienförmig geschnittene Limousinen, wie große Möwen, die ihre Flügel ausbreiten und abheben. Auf der anderen Seite der Brücke sahen wir rechter Hand den Metropol-Golfplatz, linker Hand den Niangniang-Tempel der großen Himmelsmutter Tianhou 16.
Nach dem Mondkalender war es der 18. des vierten Monats, Buddhas Geburtstag, und man feierte das traditionelle Fest im Niangniang-Tempel. Im Viertel rund um den Tempel fand man keinen einzigen freien Parkplatz mehr. An den Nummernschildern konnten wir sehen, dass die Autos größtenteils aus den umliegenden Kreisstädten gekommen waren, aber sogar aus angrenzenden Provinzen waren Gläubige mit dem Auto da.
Das Viertel war früher ein Dorf gewesen, das sich rund um den Tempel entwickelt hatte. Der Tempel hatte dem Dorf seinen Namen gegeben. Schon als Kind war ich mit meiner Mutter hierhergekommen, um Räucherwerk zu verbrennen. Obwohl es wirklich viele Jahre her war, obwohl in der Zwischenzeit so viel geschehen war, konnte ich mich noch gut daran erinnern.
Während der Kulturrevolution hatten sie den Tempel dem Erdboden gleichgemacht. Der wieder aufgebaute Tempel war noch imposanter als der alte, er besaß eine majestätische Halle und purpurne Mauern mit glasierten gelben Veluriyam-Ziegeln, wie ein chinesischer Palast.
Entlang den zwei Wegen zum Tempel drängten sich Räucherwerk- und Kerzenverkäufer und zahlreiche Stände mit Niwawa-Püppchen, hinter denen die Standbesitzer mit lauter Stimme ihre Tonkinder anpriesen:
Tonkinder für eure roten Wunschbändchen!
Niwawa-Püppchen für eure roten Wunschbändchen!
Einer der Standbesitzer trug eine lange, senfgelbe Mönchstracht und hatte einen kahlgeschorenen Schädel, unschwer war zu erkennen, dass es sich bei ihm um einen Mönch handeln musste. Er schlug im richtigen Tempo und mit den richtigen Pausen den Rhythmus auf dem Holzfisch und sang dazu:
Rotes Band am Hals des Puppenkinds,
zu Hause freu’n sich alle schon aufs Kind.
Eben noch am roten Band ins Haus geholt,
vergeh’n zwei Jahr, da ruft es Papa, Mama schon.
Meine Tonkindchen sind besonders fein,
des Künstlers Hand gab’s ganze Herzblut rein.
Niwawa-Püppchen von mir sind hübsch und bunt
mit Aprikosenwangen und ’nem Kirschenmund.
Meine Tonkindchen könnt ihr sehen
in allen unsern 108 Kreisen,
weil wir Shandonger sie am meisten
wegen ihrer Zauberkraft preisen.
Hast du ein rotes Band
um eine einzige Puppe geschwungen,
hast du alsbald einen schönen Jungen entbunden.
Bei einem Niwawa-Puppenpärchen
kriegst du Buben und Mädchen
als Drachen- und Phönixpärchen.
Bei drei Bändern mit drei Niwawa-Puppen
winken dir die drei Glücksgestirnschnuppen
mit Glück, hohem Alter, Beamtenrang.
Wählst du vier Bänder und vier von den Kindern,
nennst du alsbald die vier Lokapalas 17
Himmelskönige deine dir treuen Söhne.
Bei Fünfen werden dir fünf
überragende Führerpersönlichkeiten
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