Vor der Statue knieten auf den Gebetskissen neun Frauen. Sie knieten lange und regungslos, ohne aufzustehen, machten wieder und wieder Kotau, die Hände zur Niangniang aufschauend, betend erhoben, in stille Gebete versunken.
Auch der Marmorboden hinter den Gebetskissen war mit knienden Frauen besetzt. Die Frauen auf den Gebetskissen und auch die auf dem Boden knienden hatten alle ihr Tonkind vor sich gestellt, damit die Niangniang es sehen konnte.
Auch Kleiner Löwe kniete am Boden. Sie beugte ihr Haupt zum Kotau, mit aufrichtigem Respekt; wenn ihr Kopf den Boden berührte, hörte man den Schädel auf den Boden pochen. Ihre Augen waren voller Tränen; denn wie liebte sie die Kinder!
Aber ich wusste, dass ihr Wunschtraum, ein Kind zu gebären, unerfüllbar blieb. Im Jahr 1950 geboren, war sie, als wir den Niangniang-Tempel besuchten, 55 Jahre alt. Obwohl ihre Brüste noch üppig waren, war ihre Regelblutung damals bereits versiegt.
Während ich damit beschäftigt war, mir die betenden Leute anzuschauen, gab es bestimmt auch solche, die mich beobachteten. Ich tat es meiner Frau nach und kniete neben ihr vor der Göttin Niangniang nieder. Wer uns betrachtete, mochte denken, dass wir als älteres Ehepaar das Tonkind für unsere Kinder geholt hätten und an deren Stelle um Kindersegen baten.
Waren die Frauen mit ihrem Gebet zu Ende, steckten sie Geldscheine in den roten Gongde-Holzkasten vor der Niangniang-Statue. Diejenigen, die wenig Geld gaben, steckten es hastig hinein, solche, die viel gaben, ließen sich deutlich Zeit, damit andere sie dabei sehen konnten. Nach der Gabe band eine Nonne den Tonkindern ein rotes Band um den Hals.
Zwei Nonnen in grauer Tracht schlugen mit gesenktem Blick und nur einen Spaltbreit geöffneten Augen den Holzfisch. Dabei rezitierten sie heilige Worte. Sie blickten scheinbar nie zur Seite, aber wenn eine Einhundert-Yuan-Banknote im Schlitz des roten Holzkastens verschwand, war der Schlag auf den Holzfisch besonders geräuschvoll.
Wir hatten ursprünglich nicht vorgehabt hierherzukommen und deshalb auch kein Geld bei uns. In ihrer Verlegenheit streifte sich Kleiner Löwe ihren goldenen Ring vom Finger und warf ihn als Spende in den roten Kasten. Der Holzfisch der Nonnen wurde dreimal schnell hintereinander geschlagen und dies sehr laut. Fast so laut wie die Schüsse der Startpistole bei dem Marathonwettkampf, an dem ich als Schuljunge einmal teilgenommen habe.
In den seitlich und hinter der großen Tempelhalle gelegenen Gebetsräumen dieses taoistischen Niangniang-Tempels wurde noch weiteren Verkörperungen der Niangniang 19gehuldigt: der Feen-Niangniang, der Niangniang der Weitsicht, der Enkel schenkenden Niangniang, der Pocken-Niangniang, der Muttermilch spendenden Niangniang, der verborgenen Niangniang, der Fruchtbarkeit auf dem Acker schenkenden Niangniang, der wehenfördernden Niangniang und der Geburtshilfe-Niangniang. In jedem Gebetsraum kniete der Betende nieder und huldigte; in jedem Raum gab es einen Holzfisch, den eine wachhabende Nonne schlug.
Ich sah nach der Sonne und überredete Kleiner Löwe, doch ein anderes Mal wiederzukommen. Sie wollte eigentlich nicht, nickte aber trotzdem mit dem Kopf. Draußen waren seitlich entlang des Wegs, der zum Ausgang führte, viele kleine Zellen aufgereiht, aus deren Türen die Nonnen, wenn wir vorbeigingen, den Kopf herausstreckten und uns zuriefen:
»Wohltäterin, lassen Sie Ihrem Kind ein Langes-Leben-Schloss machen!«
»Wohltäterin, ziehen Sie Ihrem Kind ein Morgenrötehemdchen über!«
»Wohltäterin, ziehen Sie Ihrem Kind ein Paar Wolkenholzpantinen an!«
Wir hatten kein Geld, deswegen konnten wir uns immer nur entschuldigen. Eilig machten wir uns davon.
Als wir wieder auf der Straße waren, war es gerade Mittagszeit. Mein Cousin rief mich auf dem Handy an, um nachzufragen, warum wir so lange auf uns warten ließen.
In der Stadt herrschte geschäftiges Treiben, wie die Ameisen wuselten hier die Menschen durcheinander, es gab viel zu kaufen und anzuschauen, aber wir hatten keine Zeit mehr, die Auslagen zu betrachten und durch die Geschäfte zu bummeln.
Wir schoben uns nun eilig durch das Menschengewühl. Mein Cousin hatte gesagt, er warte östlich des Festtreibens schon mit dem Auto auf uns, er stehe vor der gerade heute ihre Tore öffnenden Mutter-und-Kind-Klinik, die ein chinesisch-amerikanisches Joint Venture sei.
Als wir dort eintrafen, war die Feier zur Einweihung der Klinik schon vorüber. Die Hülsen und Schnüre der Böllerschlangen lagen noch auf dem Bürgersteig und der Straße herum. In der Eingangshalle hatte man an die fünfzehn Körbe mit Blumen aufgestellt, wie ihre Flügel lüftende Phönixe. Sehr reichhaltig war die Blumenpracht. Im Foyer schwebten zwei große Luftballons, an denen Spruchbänder mit Parolen hingen. Die Architektur war bogenförmig, in Blauweiß gehalten, so dass das Gebäude wirkte, als träte man in zwei ausgebreitete Arme ein, kühle und erhabene Arme. Ein demonstrativer Gegensatz zum Niangniang-Tempel, der westlich der Klinik gelegenen war.
Wir entdeckten meinen Cousin, im westlichen Anzug und mit Lederhalbschuhen, und meine Tante zur gleichen Zeit.
Viele Leute hatten sich aus den Blumengestecken in den Körben einfach ein paar Blumen herausgezogen. Gugu war mitten unter den Eröffnungsgästen. Sie hielt einen Rosenstrauß in den Händen, ein Dutzend frischer weißer, roter und gelber Knospen. Obwohl sie uns den Rücken zuwandte, erkannten wir sie gleich. An ihrem Rücken hätten wir sie unter zehntausend haargenau gleich gekleideten Leuten immer sofort erkannt, ohne auch nur genauer hinsehen zu müssen.
Wir entdeckten bei ihr einen jungen Kerl von vielleicht zwölf, dreizehn Jahren, der ihr ein in weißes Papier eingeschlagenes Paket aushändigte, gleich auf dem Absatz kehrtmachte und sich blitzschnell entfernte. Gugu öffnete das weiße Paket und schnellte in die Höhe, wobei sie einen markerschütternden Schrei ausstieß. Ihr schwerer Körper schwankte, sie verlor das Gleichgewicht und fiel hintenüber bewusstlos zu Boden.
Auf dem Fußboden entdeckten wir einen schwarzen, mageren Frosch, der an Gugu vorbei- und davonhüpfte.
2
Draußen vor dem großen Tor der Froschzuchtfarm stand ein schwergewichtiger junger Mann Wache. Er gehörte zum Sicherheitsdienst der Farm. Dem sich nähernden Wagen meines Cousins entbot er eilfertig einen militärischen Gruß. Sodann öffnete sich das ferngesteuerte Tor und Jin Jinxiu ließ seinen VW-Passat langsam durch die Einfahrt auf den Hof des Firmengeländes rollen.
Yuan Backe, früher unser Wahrsager und nebenberuflicher Kurpfuscher, war zum Geschäftsführer Yuan avanciert und leitete das Mutterunternehmen und den Hauptsitz der Firma für Froschzucht, die die beiden zusammen gegründet hatten. Er stand neben einer lackschwarzen, monumentalen Plastik im Eingangsbereich seiner Firma und erwartete uns bereits.
Die Plastik stellte einen schwarzen Frosch dar. Von weitem betrachtet meinte man, ein gepanzertes Militärfahrzeug zu erkennen. Auf dem marmornen Sockel der Statue waren die Worte eingraviert:
Amerikanischer Ochsenfrosch (Rana catesbeiana) Amphibium, Froschlurch, echter Frosch. Sein Ruf ist laut und durchdringend und ähnelt dem Muhen eines Ochsen.
»Schnell ein Foto!« Yuan Backe war eifrig um uns bemüht. »Erst das Foto, dann die Besichtigung, danach das Essen.«
Ich musterte dieses Exemplar von einem Riesenfrosch. Mir wurde zugegebenermaßen etwas mulmig.
Nur der Rücken war lackschwarz, das Maul war grasgrün, und um die Augen herum hatte er goldene Ringe. Sein Bauch dagegen war gesprenkelt und wies pickelige Unebenheiten auf, so wie es manche Seegemüse haben. Sein durchdringender, finsterer Blick aus den zwei großen vorstehenden Augen schien mir Signale aus archaischen Zeiten zu senden.
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