Die Wurzel des Baums bewegte sich, die Erde um ihn herum riss auf.
Xiao Oberlippe rang mit sich, quälte sich wieder ans Tor meines Schwiegervaters: »Du Hurensohn, Wang Jinshan! Wir sind seit dreißig, vierzig Jahren gute Nachbarn, um ein Haar und wir wären verschwägert, und jetzt löschst du meine Familie aus ...«
Die riesige Wurzel ragte aus der Erde, sie war von hellbrauner Farbe ... eine Riesenpython, die unter Ächzen aus der Erde gezogen wurde. Nebenwurzeln rissen, brachen, immer länger, immer länger ... immer mehr Riesenpythonschlangen, die so ans Tageslicht kamen. Als die Wurzel draußen war, fiel die Baumkrone wie ein Besen zu Boden. Die kleinen Zweige zerbrachen und wirbelten Sand vom Boden auf. Die herumstehenden Gaffer schnupperten, schnaubten, als sie den Duft der frischen Erde und des Baumsaftes rochen ...
»Fick deine Mutter, Wang Jinshan, ich ramm jetzt meinen Schädel in deine Tür, bis ich tot bin, verdammt noch mal!«
Man hörte nichts. Aber nicht, weil nichts zu hören war, sondern weil der ohrenbetäubende Motorenlärm des Kettentreckers alle anderen Geräusche zudeckte.
Der Trecker hatte den großen Schnurbaum nun an die fünfzig Meter weit von Xiao Oberlippes Haus weggezogen. Wo er gestanden hatte, blieb ein Riesenloch im Boden, mit einem Wirrwarr unzähliger abgerissener Baumwurzeln. Eine Kinderschar suchte zwischen den Wurzeln nach Seidenraupenlarven.
Gugus Stimme dröhnte durch das Megaphon: »Als nächstes reißen wir Oberlippes Haustor nieder.«
Ein paar Milizionäre schafften Xiao Oberlippe vom Tor weg, zupften ihn am Philtrum und rieben seine Brust, damit er wieder zu Sinnen kam.
Seelenruhig fuhr die Tante fort: »Passt auf, ihr Nachbarn von Wang Jinshan! Wenn ihr wieder nach Haus kommt, packt eure Wertsachen zusammen. Nach Oberlippes Haus kommen eure Häuser an die Reihe. Ich sehe ja ein, dass es euch nicht einleuchtet. Aber wenn wir das eigentliche Ziel vor Augen behalten, können wir dieses Vorgehen sinnfällig nachvollziehen. Was ist unser großes Ziel? Die Geburtenplanung! Den Bevölkerungszuwachs beschränken, das ist das Ziel. Ich fürchte mich nicht vor der Rolle des Bösewichts. Irgendwer muss es immer sein. Ich weiß, dass ihr euch wünscht, dass ich zur Hölle fahre, wenn ich einmal tot bin. Kommunisten glauben nicht an so einen Kram! Konsequente Atheisten kennen keine Furcht! Wenn es nun doch eine Hölle gibt? Na, wenn schon! Ich fürchte mich davor nicht! Ich fahre nicht zur Hölle! Warum sollte ich? Nehmt das Stahlseil ab und legt es um den Torbogen!«
Die Nachbarn meines Schwiegervaters brausten zu seinem Haustor wie ein wild gewordener Bienenschwarm. Sie bearbeiteten es mit Fäusten und Fußtritten, schmissen Ziegelsteine über die Mauern in seinen Hof. Manche kamen auch und schleiften Maisstrohgarben hinter sich her, die sie unter seiner Traufe aufstellten, wobei sie mit lauter Stimme schrien: »Wang Jinshan, wenn du nicht rauskommst, zünden wir dein Haus an!«
Das Tor öffnete sich schließlich. Aber es kam nicht mein Schwiegervater heraus, auch nicht meine Schwiegermutter. Meine Frau erschien im Tor. Mit wirren Haaren, am ganzen Leib dreckverkrustet, an einem Fuß einen Schuh, den anderen barfuß, war sie gerade aus dem Kartoffelkeller herausgekrabbelt.
»Gugu, wenn ich jetzt nachgebe, lässt du sie dann in Ruhe?«, stammelte meine Frau und kam auf meine Tante zu.
Die lachte erfreut: »Wusste ich doch, dass die Frau meines Neffen den tiefen Sinn der großen gerechten Sache begreift!«
»Tante, ich bewundere dich. Wärst du ein Mann, würdest du als ein Feldherr ganze Armeen befehligen!«
»Du gleichst mir aber«, erwiderte Gugu. »Ich erinnere mich noch deutlich daran, wie gnadenlos und resolut du damals die Verlobung und den Ehevertrag mit der Familie Xiao wieder aufgelöst hast. Daran konnte ich erkennen, dass du eine echte Powerfrau bist.«
»Renmei, ich habe dir deine Würde genommen«, sagte ich.
»Renner, zeig mir mal deine Hand.«
Ich hielt sie ihr vors Gesicht, ohne zu ahnen, was sie vorhatte.
Sie packte mein Handgelenk und biss mit aller Gewalt hinein.
Ich zog meine Hand nicht zurück.
Ihre Zähne hatten zwei Reihen tiefer Spuren hinterlassen, aus denen dunkelrotes Blut hervorquoll.
Sie spuckte angewidert aus und sagte grollend: »Du lässt mich bluten, ich dich auch.«
Ich hielt ihr mein zweites Handgelenk hin.
Aber sie wehrte ab: »Ich beiß da nicht hinein. Der strenge Geschmack ekelt mich an!«
Wie ein altes Weib fing nun der aus seiner Bewusstlosigkeit wieder erwachte Xiao Oberlippe lauthals zu zetern an, während er gleichzeitig den Boden mit den Fäusten bearbeitete: »Renner und Renmei! Ihr müsst mir meinen Baum ersetzen! Meinen Baum sollt ihr mir ersetzen!«
»Pfui Teufel! Einen Furz ersetze ich dir!«, entgegnete meine Frau ihm: »Dein Sohn hat mir die Titten begrapscht, und geküsst hat er mich auch! Der Baum muss als Schadenersatz für meine verlorene Jugend herhalten!«
»Hey! Hey! Hey!« In einem Grüppchen Halbstarker tönte es laut, sie hauten sich krachend auf die Schenkel, weil meine Frau scharf wie ein wilder Feger gesprochen hatte.
»Renmei!«, rief ich atemlos, aufgebracht.
»Was ärgert dich?« Meine Frau stieg in den Fond des Wagens meiner Tante und streckte den Kopf zum Wagenfenster heraus: »War doch nur durch den Pullover.«
10
Yang, die Vorsitzende des Komitees zur Geburtenplanung in unserer Einheit, war aus Peking bei uns eingetroffen. Sie war die Tochter eines hohen, leitenden Militärs und hatte den Rang einer Generalmajorin. Ihr Name war mir ein Begriff, aber jetzt sollte ich ihr zum ersten Mal persönlich begegnen.
Die Führungskader unserer Kommune richteten ein Festmahl für sie aus. Sie schlug vor, mich und Renmei zum Essen dazu zu bitten.
Gugu suchte für diesen Anlass ein Paar ihrer Lederhalbschuhe heraus, die Renmei tragen sollte.
Das Festmahl fand in einem vornehmen Separee in der Mensa unserer Kommuneverwaltung statt.
»Renner, ich gehe besser nicht mit. Ich habe Angst, einer so hochrangigen Beamtin zu begegnen«, erklärte Renmei und fügte hinzu: »Außerdem ist es nichts Rühmenswertes, weshalb sie uns dabei haben möchte. Da können wir richtig Ärger bekommen, wenn sie alles wissen will.«
»Wozu die Angst? Nun komm schon, der Beamtengrad kann noch so hoch sein, die kochen auch nur mit Wasser«, sagte Gugu lachend zu Renmei.
Als wir zu Tisch traten, wollte die Vorsitzende Yang zwischen mir und Renmei sitzen. Sie drückte Renmei herzlich die Hand, während sie sprach: »Kleine Genossin Wang, ich möchte dir im Namen der Truppe unseren Dank aussprechen!«
Renmei war bewegt: »Chefin, ich habe einen Fehler begangen, ich mache Ihnen nur Umstände.«
Ich hatte solche Angst gehabt, dass Renmei etwas Ungehöriges sagen könnte. Ein Stein fiel mir vom Herzen, als sie so höflich und zurückhaltend antwortete.
Gugu erklärte: »Meine Schwiegertochter, die ich durch meinen Neffen habe, hat einen hohen Bewusstseinsstand, denn sie schätzt es nicht, schwanger zu sein, und sie achtet ihre Schwangerschaft nicht. Aus eigenem Antrieb kam sie zu mir, um das Kind abtreiben zu lassen. Aber weil ihre Gesundheit es nicht zuließ, hat es sich so lange verzögert.«
»Wan Herz, ich muss schon sagen! Jetzt muss ich dich kritisieren! Dein Neffe und die anderen Genossen verhalten sich völlig gedankenlos und überlassen fahrlässig alles dem Zufall«, erwiderte die Generalmajorin.
Ich nickte nur immer zustimmend mit dem Kopf.
Unser Kommuneparteisekretär erhob sich mit dem gefüllten Glas in der Hand: »Wir danken der Vorsitzenden Yang, dass sie zwischen ihren wichtigen Geschäften Zeit gefunden hat, zu uns zu kommen, um persönlich eine Prüfung vorzunehmen und uns Anweisungen zu erteilen.«
»Ich kenne eure Gegend«, antwortete sie, »denn mein Vater kämpfte hier als Partisan. Während der Schlacht am Kiaolai-Fluss schlug er sein Kommandohauptquartier in eurem Dorf auf. Deswegen ist mir hier alles sehr vertraut.«
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