Ich nickte, denn ich erinnerte mich gut an das Unglück auf unserem Hochwasser führenden, brodelnden Fluss. Es war jetzt zehn Jahre her.
»Sie selbst war in den Fluss gesprungen. Wir waren es, die sie aus dem Fluss herausfischten. Aber Faust und mit ihm alle Dörfler behaupten, dass wir Xiulian in den Fluss geschubst und ertränkt hätten. Sie schrieben sogar gemeinschaftlich einen Brief, setzten mit Blut gestempelte Fingerabdrücke darunter, reichten Beschwerde ein. Bis zum Staatsrat hoch ging die Sache. Und als es rauskam, sah man keine andere Möglichkeit, als Huang Qiuya zum Sündenbock zu machen.«
Tante zündete sich eine Zigarette an und tat einen tiefen Lungenzug. Der weiße Qualm verhüllte ihr bekümmertes Gesicht. Sie war alt geworden. Zwei tiefe Falten führten von beiden Mundwinkeln hinunter zum Kinn, ihre Augen waren trübe und hatten große Tränensäcke.
»Wir taten alles Menschenmögliche, um Xiulian zu retten und verausgabten uns dabei völlig. Ich nahm mir, um sie zu retten, sogar noch selbst einen halben Liter Blut ab. Sie hatte von Geburt an einen Herzfehler. Da war nichts zu machen, und wir ersetzten Faust den Verlust mit tausend Yuan. Damals war das eine Menge Geld. Faust ließ es dabei jedoch nicht bewenden. Er packte den Leichnam seiner Frau auf den Handwagen und ging damit, zusammen mit seinen drei Töchtern, in Hanftrauerkleidung zum Kreisparteikomitee und machte dort Krach. Er traf tatsächlich den verantwortlichen Kader auf Provinzebene an, der zur Inspektion unserer Geburtenplanung zu uns ins Dorf entsandt worden war. Die Kreispolizei kam mit einem Jeep bei uns vorbei und schaffte mich zusammen mit Kleiner Löwe und Huang Qiuya aufs Revier. Die Polizisten behandelten uns wie Straftäter, kommandierten uns frech mit den rüdesten Schimpfwörtern herum und stießen uns brutal vorwärts und ins Auto. Der leitende Kreiskader wollte mit mir sprechen, aber ich drehte mich weg, sagte, ich spräche nur mit dem leitenden Provinzkader, und stürmte zum Zimmer des Provinzbeamten. Der saß auf dem Sofa und las Zeitung. Ich blicke nur zu ihm hinüber. Das ist doch Yang Lin! Ach, Yang Ling war stellvertretender Provinzgouverneur geworden, machte sich ein feines Leben und pflegte sich. Ich war sofort auf hundertachtzig. Wie ein Maschinengewehr feuerte ich Schimpfsalven, ließ meiner Wut freien Lauf. ›Ihr da oben gebt eure verdammten Anordnungen, und wir an der Basis laufen uns die Füße wund und reden uns den Mund fusselig. Ihr wollt, dass wir alles leise, mit zivilisierten Methoden erklären, Politik vermitteln, Massenpropaganda machen und Überzeugungsarbeit leisten ... und ihr? Steht locker da und redet! Davon tut das Kreuz ja nicht weh, nein, nein ... und das Kinderkriegen ist auch nicht eure Sache! Dass die Möse dabei weh tut, stellt ihr euch nicht mal vor! Kommt an die Basis und tut mal unsere Arbeit! Wir machen uns körperlich kaputt, mit Todesverachtung rackern wir uns ab. Stecken Schikanen und Prügel ein. Fleischfetzen fliegen! Blut spritzt! Und passiert was, unterstützt uns dann unser vorgesetzter Kader? Hält er uns mal den Rücken frei? O nein, der ist immer auf der Seite der hinterlistigen kleinen Leute! Das ist bitter!‹«
Meine Tante war eine in jeder Hinsicht stolze Person.
»Renner, andere Leute hätten vor diesem hohen Kader nicht zu sprechen gewagt. Nicht so deine Tante! Du weißt, ich kümmere mich um solchen Dünnschiss nicht. Ich kann vor hohen Tieren sogar besser reden. Mit gut reden können hat es aber auch nichts zu tun. Der Grund für meinen Redefluss war allein, dass sich bei mir zu viel Verbitterung angestaut hatte. Ich redete und weinte durcheinander. Dazwischen zeigte ich ihm meine Narbe an der Stirn. ›Hat sich Faust, als er mir mit seinem Knüppel den Kopf blutig schlug, strafbar gemacht oder nicht? Wir sind in den Fluss gesprungen und haben sie gerettet. Ich habe einen halben Liter Blut für sie gespendet. Ist das nicht der Beweis äußerster Großmut?‹, sagte ich zu Yang Lin. ›Dann schick mich doch in ein Arbeitslager zur Umerziehung. Sperr mich in ein Gefängnis. Ich will hier sowieso nicht mehr arbeiten!‹ Yang Lin hatte bei meinem Bericht bitterlich zu weinen begonnen. Er stand auf und goss mir ein Glas Wasser ein, ging zur Toilette und brachte mir von dort einen warmen Waschlappen mit. Dann sagte er: ›Es stimmt, dass die Arbeit an der Basis unvergleichlich schwieriger ist. Nicht von ungefähr spricht der Vorsitzende Mao : Dringend erforderlich ist, den Bauern Bildung und Erziehung zu bringen. Genossin Wan, ich verstehe, du hast schwere Entwürdigungen hinnehmen müssen. Die Kreiskader können dich auch verstehen. Wir schätzen dich sehr.‹ Er setzte sich zu mir, lehnte sich an mich und fragte mich, ob ich nicht mit ihm kommen und auf Provinzebene arbeiten wolle? Ich wusste sofort, worauf er hinaus wollte. Aber vor meinen Augen erschienen die Kampf- und Kritiksitzung und seine abscheulichen Worte. Sofort erstarrte ich innerlich. Deswegen sagte ich entschieden: ›Nein, ich kann hier nicht weg. Ohne mich funktioniert die Arbeit hier nicht.‹ Bedauernd schüttelte er den Kopf: ›Na dann wechsle zum Kreiskrankenhaus!‹ Ich sagte wieder: ›Nein, ich gehe nirgendwo anders hin.‹ Aber ich hätte wohl doch mit ihm gehen sollen. Einfach alles stehen und liegen lassen und abhauen. Aus den Augen, aus dem Sinn! Sollen die ihre Kinder doch kriegen. Arsch auf und raus damit! Mir doch egal, ob’s zwei oder drei Milliarden sind. Kann mir doch sagen, wenn der Himmel einstürzt, stützen ihn lange Latten wie der Vorsitzende Mao, mich juckt’s nicht! Warum sollte es auch? Deine Tante zieht ihr ganzes Leben immer nur deswegen den Kürzeren, weil sie zu gehorsam ist, zu revolutionär, zu parteitreu, zu gründlich und zu gewissenhaft.«
»Aber es ist nicht zu spät, wenn dir jetzt die Einsicht kommt!«, wandte ich ein.
»Pfui Teufel!« Tante kochte schon wieder: »Was sind das für Worte? Zur Einsicht kommen! Da erzähle ich dir, der du zur Familie gehörst, mal zwei, drei Sachen, die mich geärgert haben, jammere ein bisschen, und gleich ... Ich sag dir mal eins, ich bin und bleibe eine bedingungslos parteitreue Kommunistin! Sogar während der Kulturrevolution habe ich dem Kommunismus nicht abgeschworen! Dann werde ich’s jetzt ja wohl auch nicht tun! Die Politik der Geburtenplanung muss sein. Wenn wir alle nach Lust und Laune Kinder kriegen lassen, sind es in einem Jahr dreißig Millionen mehr, in zehn Jahren dreihundert Millionen, und nach noch mal fünfzig Jahren haben die Chinesen unseren Globus plattgemacht. Deshalb muss uns jedes Mittel recht sein, wenn es darum geht, die Geburtenrate zu senken. Nebenbei ist das Chinas Geschenk an die Menschheit.«
Ich sagte: »Tante, mir sind die Zusammenhänge klar, aber jetzt zählt nur, dass Renmei fortgelaufen ist ...«
»Ein weglaufender Mönch kommt früher oder später wieder zum Tempel zurück« , erwiderte meine Tante, »wohin soll sie schon gelaufen sein? Die hat sich bei deinem Schwiegervater versteckt.«
»Renmei ist etwas jähzornig, sie hat sich nicht unter Kontrolle. Ich befürchte, dass sie sich etwas antut.«
»Mach dir mal keine Sorgen«, entgegnete meine Tante, keinen Zweifel zulassend. »Ich habe seit Jahrzehnten mit dieser Sorte Frauen zu tun. Ich weiß, wie die ticken. Bei so hysterischen Weibern, die immer gleich sensibel wimmern und bei jedem Bisschen mit Selbstmord drohen, passiert sowieso nichts. Sei beruhigt. Die möchte ihr Leben bestimmt behalten. Schwierig wird es nur bei denen, die nichts sagen, die nur wispern. Da muss man befürchten, dass sie sich aufhängen, im Brunnen ertränken oder Gift trinken. Bald fünfzehn Jahre mache ich Geburtenplanung. Bei denen, die sich umgebracht haben, waren andere Gründe vorrangig. Sei beruhigt, darauf kannst du dich verlassen.«
»Dann sag mir mal, was ich tun soll?«, sagte ich gequält. »Und wenn sie nun von Natur aus nicht in der Lage dazu ist? Sie kann das nicht! Soll ich sie etwa wie ein Schwein auf dem Weg zur Schlachtbank fesseln? Sie gefesselt zum Krankenhaus schaffen?«
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