Meine Tante, mein Vater und alle meine Freunde aus unserem Dorf laden Sie herzlich ein, wiederzukommen und unser Gast in Nordost-Gaomi zu sein. Meine Tante sagte, sie wolle Sie dann auf einer Reise nach Pingdu begleiten, um sich alles vor Ort anzuschauen. Sie hat mir noch im Geheimen verraten, dass sie von Ihrem verblichenen, verehrten Herrn Vater nur das Beste denkt, er habe einen sehr guten Eindruck auf sie gemacht. Unter den japanischen Offizieren der Kaiserlich Japanischen Armee gab es sicherlich viele, die so entsetzlich barbarisch und brutal waren, wie die chinesischen Filme sie immer zeigen. Es gab aber auch einige, die wie Ihr verblichener Herr Vater kultiviert und vollendet höflich waren. Meine Tante hat über ihn ein persönliches Urteil abgegeben. Sie bezeichnet ihn als einen weniger Bösen innerhalb einer großen Gruppe von Verbrechern.
Anfang Juni bin ich wieder nach Gaomi zurückgekehrt. Inzwischen ist bereits ein Monat vergangen, in dem ich mich sozusagen der empirischen Sozialforschung bei uns gewidmet habe, alles Vorbereitungen für das geplante Theaterstück, das meine Tante zum Thema hat. Zur gleichen Zeit schreibe ich weiter an den von Ihnen erbetenen Briefen, in denen ich Ihnen die Lebensgeschichte meiner Tante schildere, und ich befolge Ihren mahnenden Ratschlag und schreibe möglichst viel von dem, was mir persönlich widerfahren ist, mit in die Briefe hinein.
Von meiner Tante und von meinem Vater Ihnen und Ihrer Familie herzliche Grüße!
Wir Dörfler Nordost-Gaomis heißen Sie willkommen, uns wieder zu besuchen!
Kaulquappe
Gaomi, im Juli 2003
Verehrter Yoshito Sugitani san!
Ich habe furchtbare Gewissensbisse, es lässt mir keine Ruhe, dass Sie so viel kostbare Zeit für mich opfern. Dass Sie die Geduld aufbringen, einen so langen Brief zu Ende zu lesen, den ich in Etappen über einen Zeitraum von zwei Monaten schrieb und den ich Ihnen dann auch noch, um Geld zu sparen, nur als Päckchen per Seefracht zuschickte, und schließlich, dass Sie mich dazu auch noch ermutigten und darin bestärkten.
Und wie ist mir erst zumute, seit ich von Ihnen erfahren habe, dass der japanische Kommandostabsgeneral Sugitani, der damals im Zuge der japanischen Invasion im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg bei uns in Pingdu als Besatzer stationiert war, doch tatsächlich Ihr Herr Vater war! Und nun haben Sie, stellvertretend für Ihren Herrn Vater, bei meiner Tante, meiner gesamten Familie und den Dörflern aus meinem Heimatort für das geschehene Unrecht um Verzeihung gebeten. Dass Sie Ihre Augen vor der Geschichte nicht verschließen und es Ihr Wille ist, die Konsequenzen zu tragen, und dass Sie sich dies zutrauen, hat uns alle zutiefst gerührt. Zumal Sie ja selbst Leidtragender des Krieges sind. Sie haben in Ihrem Brief erwähnt, dass Sie und Ihre Frau Mutter während des Krieges ein Leben in Angst und Schrecken führten und dass Sie beide nach dem Krieg hungerten und in Lumpen gingen. Auch Ihr Herr Vater ist, wenn man es recht betrachtet, ein Leidtragender des Krieges. Denn wenn der Krieg nicht gewesen wäre, hätte er, wie Sie sagen, eine glänzende Zukunft als Chirurg vor sich gehabt. Der Krieg war sein Schicksal, er gab seinem Leben einen gänzlich anderen Verlauf, veränderte seinen Charakter und machte aus einem Lebensretter einen Mörder.
Ich habe Ihren Brief meiner Tante, meinem Vater und vielen, die jenen Krieg hier miterlebten, vorgelesen. Als ich zu Ende gelesen hatte, seufzten alle tief berührt und hatten tränenverschleierte Augen. Als Ihr Herr Vater als Kommandostabsgeneral der Besatzungszone das Hauptquartier Pingdu unter sich hatte, waren Sie ein Kind von vier, nicht einmal fünf Jahren. Es gibt keinen Grund, dass Sie für die Kriegsverbrechen, die er begangen hat, Verantwortung übernehmen. Aber Sie tun es aus freien Stücken. Mutig schultern Sie die Last der Verbrechen Ihres Herrn Vaters. Sie wollen die Schuld unter persönlichem Einsatz abbüßen. Diese Bereitschaft schätzen wir hoch, auch wenn unsere Herzen dabei bluten. In unserer heutigen Zeit mangelt es auf der ganzen Welt vor allem an der Herzenseinstellung, Verantwortung zu übernehmen. Wenn alle Menschen auf der ganzen Welt mit wachen Augen und Herzen selbstkritisch die Geschichte und sich selbst einer Prüfung unterzögen, dann bliebe der Menschheit eine Menge Dummheit erspart.
Meine Tante, mein Vater und alle meine Freunde aus unserem Dorf laden Sie herzlich ein, wiederzukommen und unser Gast in Nordost-Gaomi zu sein. Meine Tante sagte, sie wolle Sie dann auf einer Reise nach Pingdu begleiten, um sich alles vor Ort anzuschauen. Sie hat mir noch im Geheimen verraten, dass sie von Ihrem verblichenen, verehrten Herrn Vater nur das Beste denkt, er habe einen sehr guten Eindruck auf sie gemacht. Unter den japanischen Offizieren der Kaiserlich Japanischen Armee gab es sicherlich viele, die so entsetzlich barbarisch und brutal waren, wie die chinesischen Filme sie immer zeigen. Es gab aber auch einige, die wie Ihr verblichener Herr Vater kultiviert und vollendet höflich waren. Meine Tante hat über ihn ein persönliches Urteil abgegeben. Sie bezeichnet ihn als einen weniger Bösen innerhalb einer großen Gruppe von Verbrechern.
Anfang Juni bin ich wieder nach Gaomi zurückgekehrt. Inzwischen ist bereits ein Monat vergangen, in dem ich mich sozusagen der empirischen Sozialforschung bei uns gewidmet habe, alles Vorbereitungen für das geplante Theaterstück, das meine Tante zum Thema hat. Zur gleichen Zeit schreibe ich weiter an den von Ihnen erbetenen Briefen, in denen ich Ihnen die Lebensgeschichte meiner Tante schildere, und ich befolge Ihren mahnenden Ratschlag und schreibe möglichst viel von dem, was mir persönlich widerfahren ist, mit in die Briefe hinein.
Von meiner Tante und von meinem Vater Ihnen und Ihrer Familie herzliche Grüße!
Wir Dörfler Nordost-Gaomis heißen Sie willkommen, uns wieder zu besuchen!
Kaulquappe
Gaomi, im Juli 2003
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Verehrter Freund, der 7. 7. 1979 ist mein Hochzeitstag. Meine Braut Wang Renmei war meine Klassenkameradin aus der Grundschule. Sie hatte die langen Beine mit mir gemein, wir beide hatten Kranichbeine. Immer wenn ich ihre langen Beine sah, pochte mein Herz wie verrückt. Mit achtzehn traf ich sie am Brunnen, als ich mit dem Tragjoch Wasser holen ging. Ihr Eimer war ihr hinein gefallen, und sie lief aufgeregt im Kreis. Ich kniete mich auf den Brunnenrand, um ihr den Eimer wieder herauszuholen. An jenem Tag hatte ich Glück, mit einem Griff kriegte ich ihn zu packen und fischte ihn heraus. Sie rief voller Bewunderung: »Renner, das ist toll! Du bist ja ein Spezialist im Rausfischen von Eimern!«
Damals durfte sie an der Grundschule Vertretungsstunden für den Lehrer geben. Sie gab Sportunterricht. Sie war eine hoch aufgeschossene Bohnenstange, mit langem Hals, zierlichem Kopf und zwei geflochtenen Zöpfen, die ihr den Rücken hinunterbaumelten.
»Renmei, ich will dir was erzählen«, stotterte ich.
»Was denn?«
»Wang Galle und Chen Nase gehen miteinander. Wusstest du das?«
Erst zuckte sie zusammen, dann lachte sie los.
»Renner, da redest du ausgemachten Unsinn. Wie sollte wohl eine so kleine Person wie Galle mit diesem Ausländerross Nase zusammen sein? Das passt doch gar nicht!«
Dann aber platzte es plötzlich aus ihr heraus, sie bog sich vor Lachen und errötete übers ganze Gesicht, als hätte sie sich etwas Bestimmtes vorgestellt.
Todernst erwiderte ich: »Es stimmt. Wenn ich nicht die Wahrheit sage, will ich mich sofort in einen Hund verwandeln. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
»Was hast du gesehen?«, fragte Renmei jetzt, worauf ich ihr zuraunte: »Wenn ich es dir erzähle, darfst du aber nichts weitersagen. Als ich gestern aus dem Zimmer des Arbeitspunktekontrolleurs kam, ging ich an der Tenne vorbei, an dem Strohhaufen. Dahinter habe ich Flüstern und leises Kichern gehört. Ich habe mich heimlich herangepirscht, mein Ohr an den Strohhaufen gehalten und gehorcht. Ich habe gemerkt, dass Nase und Galle da drinnen steckten und miteinander turtelten. Ich hörte Galle sagen: ›Bruderherz Nase, verlass dich drauf: Auch wenn ich so klein bin, fehlt mir nichts, und ich kann dir bestimmt einen großen Sohn gebären.‹«
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