»Kleiner Renner, du Konterrevolutionär! Ich mach dich kalt!«
Dabei zielte er mit dem Speer auf mich und stürzte vor, um mich zu bajonettieren.
Ich rannte.
Er hinter mir her.
Beim Rennen auf dem Eis hatte ich Schwierigkeiten mit meiner Lauftechnik, ich spürte einen bedrohlichen, kalten Windzug im Rücken. Gleich würde der Speer meinen Rücken durchbohren ... Ich wusste, dass dieser fiese Kerl ihn auf dem Schleifrad messerscharf gewetzt hatte, dass sein Herz schwarz wie die Hölle, seine Hand tödlich war. Seit Unterlippe die scharfe Waffe besaß, war seine Mordlust noch gewachsen. Grundlos bohrte er, wo er gerade war, seinen Speer in Bäume, er benutzte aus Hirsestroh gefertigte Puppen in Menschengröße als Zielscheiben. Es war nicht lange her, dass er einen Eber, der dabei war, eine Sau zu belegen, totgestochen hatte. Ich rannte und schaute im Laufen hinter mich, sah seine nach oben abstehenden Haare, seinen starr auf mich gerichteten Blick. Wenn er mich jetzt einholte, würde ich mein Leben aushauchen.
Ich rannte, umrundete Hindernisse, schlüpfte zwischen den Menschentrauben hindurch, rannte wieder, fiel hin, rollte, kroch weiter, fast hätte mich sein böser Speer getroffen. Doch daneben! Der Speer bohrte sich ins Eis. Eissplitter flogen auf. Unterlippe fiel hin. Ich rappelte mich auf, rannte weiter. Er rappelte sich auf, verfolgte mich wieder, rempelte Leute an, Frauen, Männer.
Verdorbene Blagen! Was schubst ihr so?
Zu Hilfe! Zu Hilfe!
Mörder!
Einer, der im Rhythmus der zur Bühne marschierenden Bösewichte die Trommel schlug, kam, von mir angerempelt, aus dem Takt – den Bösewichten fielen die spitzen Papierhüte vom Kopf –, ich umrundete Nases Vater Chen Stirn, seine Mutter Alina, Backes Vater Yuan Gesicht – auch er war zu einem Machthaber, der den kapitalistischen Weg geht abgestempelt worden –, und ich preschte an Wang Bein vorbei. Ich sah Mutters Gesicht, hörte ihr lautes Schreien, sah meinen Freund Leber, hörte ein dumpfes Geräusch, dann Unterlippes schmerzverzerrten Aufschrei – später sollte ich erfahren, dass Leber ihm schnell ein Bein gestellt hatte, so dass er vornüber hingeschlagen war und mit den Zähnen ins Eis gebissen hatte. Die Lippen waren aufgeschlagen. Glück hatte er, dass er seine Schneidezähne behalten hatte. Unterlippe rappelte sich wieder auf, wollte es Leber heimzahlen, doch Wang Bein konnte ihn einschüchtern.
»Unterlippe, du Bastard! Wag es, meinem Sohn ein Haar zu krümmen, und ich kratze die deine zwei Augäpfel aus den Augenhöhlen! Wir sind seit drei Generationen Lohnbauern. Auch wenn andere dich fürchten, ich fürchte dich nicht!«
Der Versammlungsort war von Menschen überflutet. Auf dem Rückhaltebecken hatte man eine aus Brettern und Schilfmatten ansehnlich zurechtgezimmerte Bühne aufgestellt. In jenen Zeiten war es in den Kommunen üblich, einen Arbeitstrupp aus handwerklich versierten Männern durchzufüttern, Topleute, die allein zum Bühnenbau oder Tafelbau für die Kampagnen eingesetzt wurden. Auf der Bühne flatterten an die fünfzig rote Flaggen an Fahnenstangen, querformatige Spruchbänder waren aufgehängt, und in den Ecken rechts und links hatte man zwei große Pfosten aufgestellt und vier riesige Lautsprecher daran befestigt. Während die Teilnehmer sich versammelten, ertönte aus den Lautsprechern das Maobibel-Lied:
Wahrheiten des Marxismus gibt es viele,
aber schließlich trifft ein Satz den Kern,
der lautet: Rebellion ist gerechtfertigt!
Rebellion ist gerechtfertigt!
Es war ja so viel los. Wirklich aufregend war das alles. Ich befand mich mitten in der Menge und drängelte mich mit nach vorn. Ich wollte unbedingt einen Platz neben der Bühne ergattern. Die von mir weggeboxten Leute traten ohne einen Funken Höflichkeit mit den Füßen nach mir, hieben mir mit geballter Faust auf den Kopf, keilten mit den Ellenbogen nach mir aus. Nass bis auf die Haut, mit grünen und blauen Flecken am ganzen Körper, hatte ich schließlich meine Kräfte verpulvert. Ich war aber keinen Schritt weiter in Richtung Bühne gekommen, sondern befand mich weiter hinten als zuvor. Ich hörte, wie es unter der Eisoberfläche widerhallte. Mich beschlich eine ungute Vorahnung, als ein Mann mit einer Stimme wie ein Erpel durchs Megaphon brüllte:
»Die Kritik- und Kampfversammlung beginnt! Ich bitte die Armen und die Mittelbauern um Ruhe! Die ersten Reihen sollen sich setzen. Hinsetzen! Hinsetzen!«
Ich verschwand ans Westufer des Rückhaltebeckens. Dort gab es drei Kornspeicher, die auch als Schleusenraum dienen konnten. Ich kam von der rückwärtigen Seite der Speicher, zog mich an den Fugenritzen der Mauer hoch, klammerte mich mit den Händen an der Traufe fest, um mich dann wie eine Steppenweihe im Gaukelflug über die Mauer aufs Dach hinaufzuschwingen. Ich robbte die Dachziegelreihen hoch, kletterte leise auf den First und machte den Hals lang, um mich umzublicken. So weit das Auge reichte, sah ich Abertausende von Menschen und unzählige rote Flaggen. Das Rot füllte meine Augen, und das Eis auf der Wasseroberfläche blendete. Auf der Bühne knieten mit gesenkten Häuptern wohl an die fünfzig Leute. Ich wusste, dass es die Rinder- und Schlangenteufel aus der Kommune waren, die gleich der Massenkritik unterzogen würden. Xiao Oberlippe schrie mit berstender Stimme ins Megaphon. Dieser verkommene Verwalter unseres Brigadekornspeichers hätte sich bestimmt nicht träumen lassen, dass er es, verdammt noch mal, zum Kommandanten bringen würde. Aber seit Beginn der Kulturrevolution führte er die Leute in die Rebellion, denn er hatte eine Truppe mit dem Namen »Sturmrebellen« gegründet und sich selbst zu deren Kommandanten berufen.
Er trug eine verblichene, mit dunklen Flicken gestopfte Militäruniform mit einer roten Armbinde. Spärlicher Haarwuchs umkränzte seine im Sonnenlicht gleißende Glatze. Er imitierte Gestik und Tonfall, die wir von gewichtigen Persönlichkeiten aus Filmen kennen: langgezogene Laute, eine Hand in die Taille gestützt, die andere wild gestikulierend, der Körper in ständig wechselnden, raumgreifenden Posen. Seine Stimme wurde in ohrenbetäubender Lautstärke durch Hochfrequenzlautsprecher übertragen. Wie tosend gegen Stein klatschende Meeresfluten dröhnte das Brüllen der Massen vom Platz zu mir herüber. Offenbar kam es zu Störungen, denn wenn es auf der einen Seite still wurde, donnerte es von der anderen Seite. Ich sorgte mich um meine Mutter und die anderen alten Leute aus unserem Dorf. Also suchte ich mit den Augen das Eis nach ihnen ab, aber es reflektierte die Sonnenstrahlen so stark, dass ich nichts sehen konnte. Der Eiswind blies mir durch meine zerlumpte Steppjacke bis auf die Haut. Ich fror erbärmlich.
Auf einen Wink von Xiao Oberlippe griffen sich zehn, zwanzig Muskelpakete mit roten Armbinden, auf denen »Kontrollposten« stand, einen Knüppel, sprangen von der Bühne in die Menge und ließen die Knüppel tanzen, um die Ordnung zu wahren. An die Knüppelspitzen waren rote Stoffstreifen geknotet, die wie Flammen tanzten. Ein Junge bekam einen Schlag auf den Kopf, griff aufgebracht nach dem Knüppel, diskutierte lautstark mit dem Kontrollposten, bekam aber einen Faustschlag vor die Brust. Die Kontrollposten hatten Gesichter wie Stein. Bar jeden Gefühls schlugen sie zu, der Knüppel machte die Runde, die Menschen warfen sich wie rasend bäuchlings zu Boden. Durch die Lautsprecher schallte Xiao Oberlippes Geschrei.
»Alle setzen! Auf den Boden setzen! Holt die elenden Bösewichte rauf!«
Der Junge, der den Faustschlag auf die Brust bekommen hatte, wurde an den Haaren aus der Menge gleich mit nach oben gezerrt. Da waren unten auf dem Eis alle schlagartig ruhig. Manche knieten, manche saßen. Keiner wagte mehr aufzustehen. Die Kontrollposten stellten sich mit ihren langen Knüppeln gleichmäßig verteilt in der Menge auf. Wie die Vogelscheuchen im Feld!
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