Sie hatten vage von dem großen Krieg gehört, der im fernen Europa angeblich tobte, waren aber überrascht, als sie hörten, dass er schon seit drei Jahren vorbei war.
»Und Sie warn dabei?«, fragte einer neugierig.
»Leider Gottes.«
»Mit dieser Kiste?«
»So ist es. Hinten am Heck kann man noch die Einschusslöcher sehen.«
»Donnerwetter! Da muss man sich ja vorkommen wie eine Ente mit einer Ladung Schrot im Hintern.« Der Jüngere lachte und fügte dann nach einigen Sekunden des Zögerns zaghaft hinzu: »Wär es wohl möglich, eine Runde zu fliegen? Ich würde drei Pesos zahlen.«
»Warum nicht?«, antwortete der Pilot und setzte sein unnachahmliches Grinsen auf. »Aber… sind Sie verheiratet?« Als der andere bejahte, nickte der Pilot und musterte ihn skeptisch. »Ich weiß nicht, ob ich das verantworten kann…«, erklärte er, als wollte er den anderen verunsichern.
»Was soll das heißen?«, fragte der Reiter pikiert.
»Sehen Sie…«, begann der Pilot ernst. »Wenn man sich das erste Mal in ein Flugzeug setzt und fliegt, steigen einem aufgrund der hydrostatischen Dekompression, die mit dem plötzlichen Wechsel von Druck und Höhe zu tun hat, die Eier bis in die Kehle. Anschließend dauert es fast einen Monat, bis sie wieder zurückrutschen und einsatzbereit sind.« Er pfiff bedauernd durch die Zähne. »Ich weiß nicht, was Ihre Frau dazu sagen würde, wenn Sie einen Monat lang außer Gefecht sind.«
Der arme Kerl riss entgeistert die Augen auf.
»Sie behaupten allen Ernstes, dass ich einen ganzen Monat danach nich vögeln kann?«
»Vielleicht nicht ganz einen Monat, aber…«
»Wenn das so ist, vergiss es, Gringo.«
»Tut mir Leid, aber das sind Probleme, die die moderne Technik mit sich bringt«, erklärte Jimmie. »Bei uns dauert es höchstens ein oder zwei Tage, weil sich unsere Körper mittlerweile daran gewöhnt haben. Aber bei denen, die zum ersten Mal fliegen…«
McCracken hatte die ganze Zeit woanders hingeschaut, um nicht laut loszuprusten angesichts des horrenden Blödsinns, den sein Begleiter da verzapfte. Jetzt gelang es ihm, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Eine Weile unterhielten sie sich mit den ungeschliffenen Llaneros über das Ende eines Krieges und die Niederlage der Deutschen, die den beiden so gut wie nichts bedeutete.
Plötzlich wieherte eines der Pferde und stampfte mit dem rechten Vorderhuf nervös auf, während es in Richtung Fluss blickte und die Nüstern blähte.
Sein Besitzer sprang mit einem Satz auf und griff automatisch nach seiner Waffe, doch das Halfter war leer.
»Mist, verdammter!«, rief er und beobachtete aufmerksam das dicht bewaldete dunkle Flussufer auf der anderen Seite.
» Waicas «, sagte er schließlich.
»Was heißt das?«
»Wilde! Waica heißt so viel wie ›diejenigen, die töten‹, mein Freund. Menschenfresser.«
»Ich sehe niemanden«, wandte Jimmie ein.
» Waicas sieht man nich. Man riecht sie. Und wenn Caratriste so durchdringend wiehert und mit dem Huf aufstampft, heißt es, dass sie waicas wittert. Darauf können Sie Gift nehmen, Señor. Wenn sie einen Jaguar wittert, schlägt sie mit den Hinterbeinen aus«, erklärte der Reiter und schwang sich auf sein Pferd. »Wenn Sie klug sind, dann machen Sie, dass Sie hier wegkommen, bevor Sie einen ihrer spitzen Pfeile im Arsch haben.«
Als wenige Augenblicke später nur noch eine Staubwolke, die sich allmählich am östlichen Horizont verlor, an die beiden Reiter erinnerte, wandte sich der Pilot verdutzt an seinen Passagier.
»Was meinen Sie?«
»Dass sich hinter den Büschen dort jemand versteckt hält, steht außer Zweifel. Die Frage ist, ob sie uns tatsächlich angreifen.«
»Mist, verdammter!«, imitierte der Amerikaner den Llanero und grinste. »Dass es hier Menschenfresser gibt, haben Sie mir nicht gesagt. Ich werde meinen Preis erhöhen müssen…!« Dann wies er mit einer Handbewegung auf den Bug der Maschine. »Drehen Sie den Propeller!«
Ein halbes Dutzend Mal mussten sie es versuchen, bis der Motor laut knatternd und qualmend endlich ansprang.
Minuten später erhoben sie sich wie ein majestätischer Adler über die Ebene in die Luft und drehten in geringer Höhe einen weiten Bogen. Als sie den Fluss überflogen, konnten sie sich vergewissern, dass am Ufer tatsächlich ein halbes Dutzend nackter Wilder aufgetaucht war, die das stählerne Ungetüm entsetzt beobachteten.
Sie nahmen wieder Kurs auf Nordosten. Bald flogen sie über die beiden Reiter hinweg, die ihnen zuwinkten. Jimmie stimmte erneut sein nervenzermürbendes Liedchen an:
Si Adelita se fuera con otro
La seguiría por aire y por mar
Si por mar en un buque de guerra
Si por aire en un avión militar…
McCracken hingegen überkam ein Gefühl tiefen Glücks und völliger Entspannung, als er daran dachte, dass sie bald den breiten Fluss erreichen würden, an dessen Ufern die geheimnisvolle Welt der Großen Savanne begann, wo es hoch aufragende Tepuis, dichten Dschungel und auch den kleinen Nebenfluss mit dem Gold und Diamanten gab, den er einst mit seinem alten Freund All Williams entdeckt hatte.
Dort erwartete ihn das Beste seiner Vergangenheit: Jahre des Hungers, der Angst und Verzweiflung, aber auch unvergessliche Abenteuer und Träume, die er mit dem einzigen Menschen geteilt hatte, der ihm jemals wirklich nah gewesen war.
Dort lag seine Jugend begraben, neben der Leiche seines besten Freundes. Allein die Tatsache, mit einem Flugzeug in diese Jugend zurückzukehren, auch wenn dieses Gefährt langsam auseinander fiel und sich nur wie durch ein Wunder in der Luft zu halten vermochte, verschaffte ihm ein unsägliches Wohlgefühl. Ein Gefühl, das er seit langem nicht mehr verspürt hatte.
Nicht das Gold oder die Diamanten zogen ihn wie ein Magnet ins Herz des guayanesischen Dschungels, nicht die Notwendigkeit, seine leere Kasse aufzufüllen — nein, es war das Gefühl, nach Hause zu kommen, denn für einen Mann wie ihn würde der Dschungel immer sein wahres Zuhause bleiben.
Er schloss die Augen und rief sich die Bilder von damals ins Gedächtnis zurück. Dann nickte er neben seinem Freund All Williams ein, bis die heisere Stimme des Amerikaners ihn aus seinen Träumen riss.
»Da ist er!«, hörte er ihn schreien. »Da ist er, der Orinoco!«
»Der Orinoco!«
Ein klangvoller Name für einen klangvollen Fluss.
Ein Fluss mit geheimnisvollen Ursprüngen, von dem es hieß, dass er zu bestimmten Jahreszeiten die Ufer überflutet und sich durch einen gemeinsamen Nebenfluss namens Casiquiare mit den Wassermassen des Amazonas vereint. Ihre gewaltigen Überschwemmungen verwandelten den Nordwesten des Kontinents über Monate hinweg in eine merkwürdige Insel. Um zu ihr zu gelangen, musste man durch hüfthohes Wasser waten.
Dort in weiter Ferne mussten die ersten Gebirgsausläufer des Berglandes von Guayana liegen. Sie ahnten es mehr, als dass sie es sahen, hatten jedoch kaum Zeit, darauf zu achten, da Jimmie im gleichen Augenblick den Landeanflug begann und neben ein paar Lehmhütten mit Strohdächern aufsetzte, genau an der Stelle, wo der Orinoco und der Meta ineinander flossen.
Puerto Carreño war so menschenleer, dass es einer Geisterstadt glich. Keine Spur von einem Hafen, geschweige denn Bewohnern.
Die kleinen Boote, die gelegentlich auf dem riesigen Strom oder seinem schlammigen Nebenfluss auftauchten, lagen am breiten Schlammufer, unmittelbar neben den Grundmauern einiger schmutziger Häuser, die eine Art Kreis bildeten. In seiner Mitte stand ein Gebäude aus rötlichem Stein, über dem eine ausgebleichte kolumbianische Fahne wehte.
Auf der anderen Seite dieser natürlichen Grenze, in Puerto Páez, erblickte man ähnliche Behausungen, über denen die ebenfalls verblichene venezolanische Flagge flatterte.
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