Vielleicht war Heinrich III. für die katholische Liga zu moderat, in anderer Hinsicht war er ein Extremist, dem Montaignes Sinn für Mäßigung fremd war. Montaigne, der ihm mehrmals begegnete, mochte ihn nicht besonders. Heinrich III. umgab sich mit geckenhaften Höflingen, an seinem Hof herrschten Korruption, Luxus und eine absurde Etikette. Er liebte den Tanz und trug in seiner Jugend Satingewänder, Korallenarmbänder und geschlitzte Umhänge. Der modebewusste Monarch führte Hemden mit vier Ärmeln ein, von denen zwei wie Flügel flatterten. Zum Essen benutzte er eine Gabel statt Messer und Finger, im Bett trug er einen Pyjama, und er wusch sich die Haare, gelegentlich. Andererseits zeigte Heinrich auch eine übersteigerte Neigung zu Mystizismus und Bußprozessionen. Je ratloser ihn die Probleme des Reiches machten, desto öfter zog er barfuß durch die kopfsteingepflasterten Straßen — ein Flagellant unter anderen, der Psalmen sang und sich geißelte.
Die Vorstellung, die politische Krise lasse sich durch Gebet und extreme spirituelle Übungen lösen, war für Montaigne völlig abwegig. Er lehnte solche Bußprozessionen ab und verwarf den Glauben an Kometen, Hagelstürme, Missgeburten und andere Zeichen der Apokalypse. Die Propheten des Weltuntergangs, sagte er, drückten sich in der Regel nur sehr vage aus, um später umso leichter sagen zu können, ihre Prophezeiung sei richtig gewesen. Die meisten Berichte über Hexerei waren für Montaigne Ausgeburten der menschlichen Phantasie und hatten mit dem Wirken des Teufels nichts zu tun. Im Allgemeinen hielt er sich jedoch lieber an seinen Wahlspruch: «Ich enthalte mich des Urteils.»
Sein Skeptizismus wurde gelegentlich auch kritisiert: Zwei seiner Zeitgenossen in Bordeaux, Martin-Antoine Del Rio und Pierre de Lancre, meinten, in theologischer Hinsicht sei es gefährlich, apokalyptische Ereignisse als Hirngespinste zu bezeichnen, weil dadurch die Aufmerksamkeit von der realen Bedrohung abgelenkt werde. Montaigne setzte zumindest seinen Ruf aufs Spiel, wenn er sich gegen Folter und Hexenprozesse aussprach, wurde er doch ohnehin längst in die Partei der politiques («Politiker») eingereiht, nach deren Ansicht die Probleme des Königreichs nichts mit dem Antichrist oder einer anbrechenden Endzeit zu tun hatten, sondern rein politischer Natur waren, weshalb sie auch nur auf politischem Weg zu lösen seien. Formell unterstützten die politiques den König und plädierten für die Einheit Frankreichs unter einem rechtmäßigen Monarchen. Insgeheim aber wünschten sie sich einen stärkeren, die Einheit fördernden Monarchen und erstrebten den Ausgleich zwischen den verschiedenen Parteien, um die Kriege zu beenden und den Grundstein für die Zukunft Frankreichs zu legen.
Eine Gruppe von Flagellanten. Kupferstich aus dem Jahr 1583
Leider war die einzige Gemeinsamkeit zwischen extremen Katholiken und extremen Protestanten der Hass auf die politiques , wie sie von ihren Gegnern genannt wurden: ein pejorativer Begriff, der gleichbedeutend war mit Gottlosigkeit. Ihnen liege nur an politischen Lösungen, nicht an ihrem Seelenheil, und sie täuschten die Menschen wie der Satan selbst, so der Vorwurf. «Er trägt einen Schafspelz», schrieb ein Zeitgenosse über den Typus des politique , «trotzdem ist er ein reißender Wolf.» Im Unterschied zu den wahren Protestanten machten sie allen nur etwas vor, und so klug und intellektuell, wie sie waren, konnten sie unmöglich die unschuldigen Opfer satanischer Täuschung sein. Dass Montaigne mit diesen politiques in Verbindung gebracht wurde, gab ihm einen guten Grund, seine Offenheit und Aufrichtigkeit, aber auch seine katholische Rechtgläubigkeit zu betonen (wenngleich hier ja ein Wolf im Schafspelz Aufrichtigkeit für sich reklamierte).
Die katholische Liga warf den politiques vor, sie seien nicht vertrauenswürdig; die politiques ihrerseits machten der Liga zum Vorwurf, sich von Leidenschaften beherrschen zu lassen und ihre Urteilskraft eingebüßt zu haben. Wie merkwürdig, reflektierte Montaigne, dass das Christentum so oft gewalttätige Exzesse, Zerstörung und Leid auslöste:
Unser Glaubenseifer tut Wunder, wenn er sich mit unsrer Neigung zu Ehrgeiz und Habsucht, zu Verleumdung und Rachgier, zu Grausamkeit und Aufruhr verbündet. Die Gegenrichtung hin zu Mäßigung, Wohlwollen und Güte aber schlägt er, falls ihn nicht wie durch ein Wunder eine höchst seltene Veranlagung hierzu bewegt, weder zu Fuß noch auf Flügeln ein.
«Die Christen übertreffen alle andern an Feindeshass», schrieb er. Ihnen gegenüber gab er dem stoischen Weisen den Vorzug, der sich moralisch einwandfrei verhält, seine Affekte zügelt, gut urteilt und recht zu leben weiß.
Tatsächlich waren die politiques von der stoischen Philosophie beeinflusst. Sie lehnten Revolution und Königsmord ab und plädierten für den amor fati , die Schicksalsergebenheit. Sie vertraten auch die stoische Auffassung von Kontinuität: die Überzeugung von der zyklischen Bewegung der Welt mit Phasen des Niedergangs und der Erneuerung statt einer linearen Bewegung auf ein Ende zu. Während die religiösen Parteien die himmlischen Heerscharen eines Armageddon sich formieren sahen, waren die politiques überzeugt, früher oder später werde sich die Lage beruhigen und der Mensch zur Vernunft zurückfinden. In jenen Jahrzehnten waren sie die Einzigen, die ihren Blick auf eine Zukunft richteten, da die troubles Geschichte wären.
Der Stoiker in Montaigne war es, der in den Essais die Kriege in so frappierender Weise herunterspielte. Zu Recht haben Biographen und Kritiker immer wieder betont, wie stark sein Leben von der Erfahrung des Kriegs geprägt war. Doch in den Essais liest man Sätze wie: «Wenn ich all die ungestraft bleibende Zügellosigkeit unsrer Wirren sehe, wundre ich mich eher, dass sie noch halbwegs glimpflich verlaufen.» Oder: «Da dürfte es schon viel sein, wenn man sich in hundert Jahren wenigstens ungefähr erinnert, dass es zu unsrer Zeit in Frankreich Bürgerkriege gab.» Wer selbst davon betroffen sei, werde sie schlimmer einschätzen, als sie in Wirklichkeit waren, da er nur aus seiner eigenen Perspektive urteilen kann:
Wer sich aber wie auf einem Gemälde das große Bild unserer Mutter Natur in ihrer vollen Majestät vor Augen hält, wer in ihrem Antlitz ihren unendlichen, sich ständig wandelnden Formenreichtum liest, wer sich darin, und nicht nur sich, sondern ein ganzes Königreich als winzigen Strich entdeckt, wie von der Spitze des feinen Pinsels hingesetzt: der allein schätzt die Dinge nach ihrer wahren Größe ein.
Montaigne rief seinen Zeitgenossen die Lektion der antiken Stoiker in Erinnerung, sich von einer schwierigen Situation nicht überwältigen zu lassen, sondern zu versuchen, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und zu gewichten. Die Stoiker blickten auf ihre Probleme herab wie auf das Gewimmel eines Ameisenhaufens. Astrologen prophezeiten derzeit zwar «große und nahe Veränderungen und Umwälzungen», schreibt Montaigne, vergaßen dabei aber die schlichte Tatsache, dass das Leben weiterging. «Ich jedenfalls überlasse mich keineswegs der Verzweiflung», fügte er beiläufig hinzu.
Zugegebenermaßen hatte Montaigne Glück. Durch den Krieg wurden zwar seine Ernten zerstört, er fürchtete, in seinem Bett ermordet zu werden, und er wurde zu politischer Tätigkeit gezwungen, der er sich lieber entzogen hätte; und in den 1580er Jahren, als der Krieg in seine letzte und gewalttätigste Phase trat, wurde alles noch schlimmer. Man kann jedoch nicht behaupten, dass ihn diese Erfahrungen für sein Leben zeichneten. Falls er jemals selbst zur Waffe gegriffen hat, verschweigt er es in den Essais .
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