Montaigne hatte recht. Das Leben ging weiter. Die blutigen Massaker der Bartholomäusnacht waren nicht die Vorboten des Weltuntergangs, wohl aber der Auftakt zu langen Jahren des Leids und der Not zahlloser Menschen. Generation folgte auf Generation, bis viele kaum noch wussten, dass in ihrem Jahrhundert solche Kriege überhaupt stattgefunden hatten. Montaigne und andere politiques hatten dazu beigetragen, der Vernunft wieder Geltung zu verschaffen. Mit seinem Beharren auf Mäßigung und Gelassenheit diente er der Rettung des Landes weit mehr als die fanatischen Glaubenseiferer unter seinen Zeitgenossen. Zwar engagierte er sich zeitweilig auch unmittelbar politisch, sein größter Beitrag aber lag darin, dass er sich heraushielt und die Essais schrieb. Dadurch wurde er für viele zur Leitfigur.
Ein Held
Wer Montaigne diese Rolle zuschrieb, sah in ihm einen Helden der ungewöhnlichen Art, dem jeder Heroismus fremd war. Selten bewunderte man ihn wegen seiner großen öffentlichen Verdienste, auch wenn er in späteren Jahren einige bemerkenswerte Dinge tat. Häufiger betrachtete man sein Beharren auf Normalität auch unter außergewöhnlichen Umständen als vorbildlich, ebenso die Weigerung, seine geistige Unabhängigkeit aufzugeben.
Viele seiner Zeitgenossen sahen ihn in diesem Licht. Der große politische Denker und stoische Philosoph Justus Lipsius ermunterte ihn weiterzuschreiben, um anderen ein gutes Beispiel zu geben. Über all die Jahrhunderte hinweg nahmen sich Leser in unruhigen Zeiten Montaigne, den Stoiker des 16. Jahrhunderts, zum Vorbild. Seine Essais enthielten praktische Weisheiten zu der Frage, wie man Einschüchterungen entgegentreten, wie man Offenheit mit dem Bedürfnis nach Sicherheit in Einklang bringen konnte oder wie man sich in einem grausamen Krieg seine Selbstachtung und Menschlichkeit bewahrte. Diese Botschaft Montaignes sprach ganz besonders Leser des 20. Jahrhunderts an, die zwei Weltkriege und faschistische wie kommunistische Diktaturen erlebten. Dem Gefühl der Verzweiflung angesichts des drohenden Untergangs der zivilisierten Gesellschaft setzte Montaigne die Zuversicht entgegen, dass am Ende die Normalität wiederkehren und sich die Perspektive erneut verschieben werde.
Zu diesen Lesern Montaignes zählte Stefan Zweig, der im Zweiten Weltkrieg im erzwungenen Exil in Südamerika lebte und dort einen langen, sehr persönlichen Aufsatz über Montaigne verfasste, seinen unheldenhaften Helden.
Als Zweig mit zwanzig Jahren im Wien der Jahrhundertwende die Essais zum ersten Mal zur Hand nahm, wusste er nicht viel damit anzufangen. Wie Lamartine und George Sand fehlte auch ihm die «innere Zündung der leidenschaftlichen Begeisterung, das elektrische Überspringen von Seele zu Seele». Er entdeckte keinen Bezug zu seinem eigenen Leben. «Was gingen mich jungen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts die weiträumigen Exkurse des Sieur de Montaigne über die ‹Cérémonie de l’entrevue des rois› oder seine ‹Considérations sur Cicero› an?» Selbst wenn Montaigne interessantere Themen behandelte wie Sex und Politik, fühlte sich Zweig nicht von dessen «milder, temperierter Weisheit» und seinem Ratschlag angesprochen, «sich nicht allzu leidenschaftlich in die äußere Welt [zu] verstricken». Es liege, schrieb Zweig, «im Wesen der Jugend, dass sie nicht zu Milde, zur Skepsis beraten zu sein wünscht. Jeder Zweifel wird ihr zur Hemmung, weil sie Gläubigkeit und Ideale braucht zur Auslösung ihrer inneren Stoßkraft.» Junge Menschen sehnen sich nach etwas, an das sie glauben können, sie wollen befeuert werden.
Zudem schien um 1900 die Freiheit des Individuums keiner Verteidigung mehr zu bedürfen. «War das alles denn nicht schon längst Selbstverständlichkeit geworden, durch Gesetz und Sitte garantierter Besitz einer längst von Diktatur und Knechtschaft emanzipierten Menschheit?» Zweigs Generation — er ist 1881 geboren — ging davon aus, dass Wohlstand und individuelle Freiheit immer weiter zunahmen. Warum sollte es einen Rückschritt geben? Niemand hatte das Gefühl, die Zivilisation sei bedroht, niemand musste sich auf sich selbst zurückziehen, um seine innere Freiheit zu bewahren. «So schien Montaigne unserer Generation sinnlos an Ketten zu rütteln, die wir längst zerbrochen meinten.»
Doch es kam anders. Wie Montaigne wuchs auch Stefan Zweig in einer hoffnungsvollen, glücklichen Epoche auf, um am Ende deren völligen Zusammenbruch zu erleben. Es wurden neue Ketten geschmiedet, die fester und schwerer waren als zuvor.
Zweig überlebte den Ersten Weltkrieg, doch dann kam der Aufstieg Hitlers. Zweig musste aus Österreich fliehen und wurde zum Heimatlosen, zuerst in Großbritannien, dann in den Vereinigten Staaten und schließlich in Brasilien. Sein Exil machte ihn «wehrlos wie eine Fliege, machtlos wie eine Schnecke», wie er es in seiner Autobiographie Die Welt von Gestern formulierte. Er fühlte sich wie ein Verurteilter in seiner Zelle, der auf seine Hinrichtung wartet, zunehmend unfähig, sich in dem Land zurechtzufinden, das ihn aufgenommen hatte. Um nicht den Verstand zu verlieren, stürzte er sich in die Arbeit. Im Exil schrieb er eine zweibändige Darstellung Balzacs und seines Werks, mehrere Novellen und schließlich den Aufsatz über Montaigne — fast ohne Quellen und Aufzeichnungen, denn er hatte seinen ganzen Besitz verloren. Montaignes innere Leichtigkeit war Stefan Zweig nicht gegeben, aber seine Lebenssituation war auch ungleich dramatischer:
So gehöre ich nirgends mehr hin, überall Fremder und bestenfalls Gast; auch die eigentliche Heimat, die mein Herz sich erwählt, Europa, ist mir verloren, seit es sich zum zweitenmal selbstmörderisch zerfleischt im Bruderkriege. Wider meinen Willen bin ich Zeuge geworden der furchtbarsten Niederlage der Vernunft und des wildesten Triumphs der Brutalität innerhalb der Chronik der Zeiten.
Bei seiner Ankunft in Brasilien 1941 war er weit entfernt von dem Gefühl, endlich eine Heimat gefunden zu haben, und obwohl er dem Land dankbar war für seine Gastfreundschaft, blieb er der Verzweiflung nahe. In dem Haus, in dem er wohnte, fand sich ein Band mit den Essais , und er las das Buch ein zweites Mal. Einst eine langweilige und nichtssagende Lektüre, sprach es ihn jetzt unmittelbar an, als sei es direkt für ihn oder zumindest für die Menschen seiner Generation geschrieben. Sofort kam ihm die Idee, über Montaigne zu schreiben. Im Brief an einen Freund heißt es: «Dazwischen halte ich mich an Montaigne, der in einer genau so dreckigen Zeit wie der unseren versucht hat, unabhängig zu bleiben und auch unter der Gasmaske klar zu denken.» Und in dem Montaigne-Aufsatz gesteht er: «Erst in dieser Bruderschaft des Schicksals ist mir Montaigne der unentbehrliche Helfer, Tröster und Freund geworden, denn wie verzweifelt ähnlich ist sein Schicksal dem unseren!»
Sein Montaigne-Essay wurde letztlich doch eine Art Biographie, aber eine sehr persönliche, die unapologetisch die Ähnlichkeiten zwischen Montaignes Epoche und seiner eigenen aufzeigte. In Zeiten wie dem Zweiten Weltkrieg oder den Bürgerkriegen in Frankreich, schreibt Zweig, fällt das Leben des Einzelnen der Besessenheit von Fanatikern zum Opfer. Und dann lautet die Frage nicht: Wie kann ich überleben? sondern: Wie bewahre ich mir «die Humanität des Herzens»? Oder anders gesagt: Wie bewahre ich mir mein innerstes Selbst? Wie schaffe ich es, in dem, was ich sage und tue, nicht weiter zu gehen als bis zu dem, was ich für richtig erachte? Wie schaffe ich es, meine Seele nicht zu verlieren? Vor allem aber: Wie bleibe ich frei? Montaigne war kein Freiheitskämpfer im herkömmlichen Sinn, räumt Zweig ein. «Er hat nichts von den rollenden Tiraden und dem schönen Schwung eines Schiller oder Lord Byron, nichts von der Aggressivität eines Voltaire.» Seine ständigen Beteuerungen, er sei faul, unnütz und verantwortungslos, machen ihn zum Heldentum untauglich, aber es sind in Wahrheit gar keine Unzulänglichkeiten, sondern eben die Eigenschaften, die man braucht, um sein innerstes Ich zu retten.
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