Montaigne schwelgte sehr wohl in den Wonnen, Montaigne zu sein, und irritierte damit so manche Leser. Der berühmte späthumanistische Philologe Joseph Justus Scaliger empörte sich besonders über Montaignes freimütige Bekundung in der Ausgabe von 1588, er ziehe Weißwein dem Rotwein vor. (Montaigne sagt jedoch, er sei «zuerst von Weiß- auf Rotwein übergegangen, dann von Rot- zurück zu Weißwein».) Und Pierre Dupuy, gleichfalls ein zeitgenössischer Gelehrter, fragte: «Wer zum Teufel will wissen, was ihm schmeckte?» Natürlich ereiferten sich auch Pascal und Malebranche. Malebranche nannte die Essais eine «Unverfrorenheit» (effronterie) , und Pascal meinte, man hätte Montaigne begreiflich machen müssen, dass er «zu viele Geschichten erzählte und zu viel von sich selbst sprach».
Erst die Romantiker schätzten, ja liebten Montaignes offenherzige Auskunft über sich selbst, und vor allem jenseits des Kanals fand er jetzt eine begeisterte Leserschaft. Der englische Kritiker Mark Pattison schrieb 1856, Montaignes vermeintlicher Egoismus mache ihn so lebendig wie eine Romanfigur. Bayle St. John bemerkte, alle wahren «Liebhaber Montaignes» würden sein zielloses «Geschwätz» schätzen, das seinen Charakter so lebensecht mache und ihnen die Möglichkeit gebe, sich in ihm wiederzuerkennen. Und der schottische Kritiker John Sterling stellte Montaignes Art und Weise, über sich selbst zu schreiben, der anerkannten Tradition der Memoirenliteratur gegenüber, die nur den öden «Lärm und Trubel» der äußeren Ereignisse wiedergebe. Montaigne dagegen habe «den Menschen selbst» offengelegt: den «Kern» seiner selbst. In den Essais sei «das Innerste das Klarste».
Schon in der Ausgabe von 1580 beschäftigte sich Montaigne mit sich selbst. Nicht in einem der wagemutigen späteren Kapitel, sondern bereits in der allerersten Ausgabe bekannte er:
Ich wende meinen Blick nach innen, und da halte ich ihn fest und lasse ihn verweilen. Jedermann schaut vor sich, ich schaue in mich hinein. Ich habe es nur mit mir selbst zu tun. Ich beobachte mich unablässig, ich prüfe mich, ich koste mich […]. Ich wälze mich in mir selbst.
Ein sehr sinnliches, anschauliches Bild: Man sieht förmlich Montaigne sich um sich selbst drehen, wie ein junger Hund, der sich im hohen Gras wälzt. Und wenn er sich nicht wälzt, dann faltet er sich in sich selbst zurück. «Ich falte meinen Blick zurück nach innen» wäre eine wörtlichere Übersetzung des ersten Satzes dieser Passage: Je replie ma vue au dedans . Er scheint sich ständig zu sich selbst zurückzuwenden, in immer wieder neuen und immer tieferen Faltungen. Das Ergebnis ist eine wahre Falt-Orgie, eine barocke Draperie, die sich immer weiter aufbauscht. Kein Wunder, dass Montaigne — anachronistisch — bisweilen als der erste Autor der Barockzeit bezeichnet wird. Man könnte ihn auch einen manieristischen Autor nennen. Manieristische Kunst, die dem Barock unmittelbar vorausgeht, war sehr viel regelloser und anarchischer als die barocke. Mit ihren optischen Täuschungen, ihrer Überfrachtung und ihren verzerrten Proportionen und Perspektiven kehrte sie sich von den klassischen Idealen der Renaissance — Harmonie und Ausgewogenheit — ab. Montaignes Beschreibung seiner Essais als «Grotesken», als «monströse […] Zerrbilder ohne klare Gestalt, in Anordnung, Aufeinanderfolge und Größenverhältnis dem reinen Zufall überlassen» passt in dieses Programm. Gemäß den klassischen ästhetischen Regeln des Horaz sollte man in der Kunst Monstren, menschliche Missgestalten, nicht einmal erwähnen. Montaigne jedoch widmet sein ganzes Buch einem solchen Monster.
Die Harpyie, ein geflügeltes Fabelwesen. Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert
Montaigne, politisch konservativ, war von Anfang an ein literarischer Revolutionär, er schrieb wie niemand sonst, und seine Feder folgte dem natürlichen Rhythmus der Gedanken und nicht einem formalen Bauplan. Er kappte Überleitungen, übersprang Argumentationsschritte und ließ seinen Stoff in klobigen Stücken herumliegen, in einer langage coupé , einer kantigen Sprache. «Von nichts sehe ich das Ganze», schrieb er.
Von den hundert Gliedern und Gesichtern, die jedes Ding hat, nehme ich mir jeweils eins vor, zuweilen um bloß daran zu lecken, zuweilen um seine Oberfläche abzutasten; öfters aber auch, um bis zu den Knochen vorzustoßen. Ich möchte nicht so breit, sondern so tief eindringen, wie ich nur kann; und meistens liebe ich es, die Dinge hierbei von einer ungewöhnlichen Seite her in den Griff zu nehmen.
Letzteres ist unbestreitbar wahr. Bereits die ersten Kapitel nehmen gewundene Wege, um ihr Thema einzukreisen, eine Tendenz, die sich in den Essais der 1580er Jahre noch verstärkt. «Über Wagen» beginnt mit Bemerkungen über große Autoren, dann plaudert er ein bisschen über das Niesen und kommt zwei Seiten später endlich auf sein Thema zu sprechen — nur um sich fast sofort wieder woandershin zu wenden und den Rest des Kapitels über die Neue Welt zu schreiben. «Über die Physiognomie» behandelt das Thema anhand einer unvermittelten Bemerkung über die Hässlichkeit des Sokrates — aber erst nach zweiundzwanzig Seiten eines Essai , der (in der englischen Übersetzung von Donald Frame) insgesamt nur achtundzwanzig Seiten lang ist. William Thackeray meinte im Scherz, Montaigne hätte die Titel seiner Essais beliebig vertauschen können oder sie «Über den Mond» oder «Über Frischkäse» nennen können, es hätte kaum einen Unterschied gemacht. Montaigne selbst gibt zu, dass die Titel der Kapitel in keinem klaren Zusammenhang zu deren Inhalt stünden: «Oft bezeichnen sie ihn nur durch ein bestimmtes Merkmal.» Wenn kein logischer Zusammenhang ersichtlich sei, werde sich «in irgendeiner Ecke stets ein Wort finden». In den «Worten in der Ecke» verstecken sich häufig seine interessantesten Themen. Montaigne bringt sie im Text genau da unter, wo sie den Fluss radikal unterbrechen, alles durcheinanderbringen und es dem Leser unmöglich machen, der Argumentation zu folgen.
Montaignes Essais präsentierten sich anfangs als eher konventionelles Werk: als Blütenlese aus dem Garten der großen klassischen Autoren, ergänzt durch Reflexionen über Diplomatie und Kriegsethik. Wenn man jedoch das Buch aufschlägt, verwandelt es sich wie eine Figur aus Ovids Metamorphosen in etwas vollkommen anderes. Das einzig verbindende Element ist Montaigne selbst. Ein größerer Verstoß gegen die Konvention ist kaum vorstellbar. Das Buch ist nicht nur monströs, es erhält seine Geschlossenheit einzig durch das, was bescheiden in den Hintergrund hätte treten sollen: das Subjekt Montaigne. Er ist das Gravitationszentrum der Essais , das im Laufe der Zeit immer mehr an Kraft gewinnt, ergänzt durch immer neue Varianten, befrachtet mit zusätzlichem Gepäck, Exkursen und Abschweifungen.
Die 1570er Jahre waren Montaignes erste bedeutende Schreibdekade, die 1580er Jahre wurden seine große Dekade als Autor. In diesen zehn Jahren verdoppelte sich der Umfang der Essais , und aus dem Nobody Montaigne wurde ein Star. Er verließ sein Refugium in der ländlichen Guyenne und unternahm eine lange Reise durch die Schweiz und Deutschland nach Italien, er wurde Bürgermeister von Bordeaux und zu einer öffentlichen Person. Es waren kräftezehrende Jahre, in denen sich seine Gesundheit zusehends verschlechterte. Diese Jahre machten ihn zugleich zu einer Gestalt, die die Zeiten mühelos überdauert hat.
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Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Schau dir die Welt an!
Reisen
Der Erfolg der ersten Ausgabe der Essais im Jahr 1580 muss Montaignes Blick auf das Leben verändert haben. Die Anerkennung entriss ihn der Alltagsroutine und gab ihm das Gefühl, es sei an der Zeit, das Leben von einer anderen Seite kennenzulernen und sich wieder mehr auf die Welt einzulassen. In den Essais steht nicht viel darüber, aber vielleicht reizte ihn der Gedanke einer diplomatischen Karriere, und er fand, die beste Art, sich darauf vorzubereiten, bestehe darin, sich international zu vernetzen. Die Führung der Güter konnte er getrost seiner Frau überlassen. Montaignes Reiselust, um den «ewigen Wandel der Erscheinungsformen unsrer Natur» zu erkunden, war nicht neu. Schon als Kind hatte er eine «tüchtige Neugierde» auf die Welt und wurde auf alles aufmerksam: «auf ein Gebäude, einen Springbrunnen, einen Menschen, ein altes Schlachtfeld, den Ort, an dem Caesar oder Karl der Große vorbeikam». Jetzt stellte er sich vor, in den Fußstapfen der von ihm bewunderten antiken Philosophen zu wandeln, um sein «Gehirn an ihrem reiben und verfeinern» zu können.
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