Autoren wie Diderot und Rousseau waren nicht nur von dem «kannibalischen» Montaigne fasziniert, sondern von allen Textabschnitten, in denen er über eine einfache und natürliche Lebensweise schreibt. Jenes Werk Rousseaus, das Montaignes Essais am meisten zu verdanken hat, ist der überaus erfolgreiche Erziehungsroman Émile . Mit der Propagierung einer «natürlichen» Erziehung hat er das Leben einer ganzen Generation von Kindern verändert. Eltern und Lehrer, so Rousseau, sollten ihre Kinder behutsam erziehen und ihnen durch Reisen und Gespräche die Möglichkeit geben, sich von ihrer Neugier leiten zu lassen und die Welt zu entdecken. Gleichzeitig sollten sie, wie kleine Stoiker, an harte Lebensbedingungen gewöhnt werden. Die Anklänge an Montaignes Essai über die Erziehung sind offenkundig, auch wenn Rousseau Montaigne nur gelegentlich erwähnt, meist, um ihn anzugreifen.
Massive Kritik an Montaigne übt er beispielsweise im Vorwort zu den Bekenntnissen , seiner Autobiographie, die sich stark an Montaignes Projekt der Selbstbeschreibung orientiert. In diesem Vorwort, das in späteren Ausgaben meist fehlt, weist Rousseau diese Abhängigkeit zurück: «Ich rechne Montaigne an vorderster Stelle zu denen, die dadurch täuschen wollen, dass sie die Wahrheit sagen. Er porträtiert sich selbst als fehlerhaft, gesteht aber nur solche Fehler ein, die ihn liebenswert machen.» Mit anderen Worten: Nicht Montaigne, sondern Rousseau sei der Erste, der einen schonungslos ehrlichen Bericht über sich selbst verfasst hat. Das gibt Rousseau die Freiheit zu behaupten: «Dies ist das einzige Porträt eines Menschen exakt nach der Natur und in seiner ganzen Wahrheit, das es jemals gab und wahrscheinlich jemals geben wird.»
Anders als Montaignes Essais erzählen Rousseaus Bekenntnisse das Leben chronologisch, angefangen mit der Kindheit; aber auch die Zielrichtung beider Autoren ist unterschiedlich. Rousseau betrachtete sich als eine solche Ausnahmeerscheinung an Brillanz, aber auch an Bosheit, dass er diese einzigartige Kombination von Charaktereigenschaften für die Nachwelt festhalten wollte.
Ich kenne die Menschen. Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, dass ich auch nicht gemacht bin wie irgendeiner von allen, die leben […]. Ob die Natur gut oder übel daran getan hat, die Form zu zerbrechen, in der sie mich gestaltete, das wird man nur beurteilen können, nachdem man mich gelesen hat.
Montaigne dagegen sah sich als einen durch und durch gewöhnlichen Menschen, in jeder Hinsicht — bis auf seine Angewohnheit, Dinge aufzuschreiben. Er «trägt die ganze Gestalt des Menschseins in sich» und freut sich, ein Spiegel für andere zu sein — dieselbe Rolle, die er den Tupinambá zuschreibt. Genau darum geht es in den Essais: Wenn sich niemand in ihnen wiedererkennt, wozu sollte man sie dann lesen?
Einige Zeitgenossen bemerkten auffällige Ähnlichkeiten zwischen Rousseau und Montaigne, und man bezichtigte Rousseau des Plagiats. Dom Joseph Cajot bemerkte in einer Schrift mit dem unverblümten Titel Les plagiats de M. J. J. Rousseau , der einzige Unterschied bestehe darin, dass Montaigne weniger schwärme als Rousseau und sich kürzer fasse — gewiss das erste und einzige Mal, dass man ihm dieses Kompliment machte. Und in einem von Nicolas Bricaire de la Dixmerie verfassten Dialog gibt Rousseau zu, Gedanken von Montaigne übernommen zu haben, verteidigt sich aber damit, sie hätten nichts mit Montaigne zu tun, weil er selbst «inspiriert», Montaigne aber «kalt» geschrieben habe.
Zu Lebzeiten Rousseaus wurden das Schwärmerische, die Inspiration und das Feuer der Begeisterung bewundert. Diese Qualitäten waren der Beweis, dass der Autor im Einklang mit der «Natur» stand, ohne ein Sklave der kalten und herzlosen Zwänge der Zivilisation zu sein; dass er wild und aufrichtig war und über das gewisse kannibalische Etwas verfügte.
Die Leser des 18. Jahrhunderts, die Montaigne für sein Lob der Tupinambá und seine Äußerungen über die Natur schätzten, entwickelten sich immer mehr zu Romantikern — und Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts war Montaigne nicht mehr derselbe wie zuvor.
«Erwache aus dem Schlaf der Gewohnheit!» — diese Antwort auf die Ausgangsfrage nach dem «richtigen» Leben war zunächst gleichbedeutend mit der Aufforderung zu Aufgeschlossenheit und sanfter Rebellion. Später sah man darin eine Aufforderung zu offenem Widerspruch, ja zur Revolution. Von nun an betrachtete man Montaigne nicht mehr als einen Quell abgeklärter hellenistischer Weisheit, er gewann jetzt das Image des Wilden und Ungestümen.
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Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Finde das rechte Maß!
Reguliere die Temperatur!
Die Leser des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts schätzten nicht nur Montaignes Lob der amerikanischen Ureinwohner, sondern auch seine Bereitschaft, offen über sich selbst Auskunft zu geben, die Widersprüche seines eigenen Charakters zu erkunden, Konventionen zu missachten und mit alten Gewohnheiten zu brechen. Als erste Generation von Lesern goutierten sie auch seinen Stil mit all seinen Brüchen und Sprüngen, die Impulsivität, mit der er seine Gedanken äußerte, ohne sie in einen geordneten Zusammenhang zu bringen.
Besonders angetan waren romantische Leser von Montaignes inniger Zuneigung zu Étienne de La Boétie. Dass die Liebesgeschichte mit La Boéties Tod tragisch endete, machte sie um so schöner. Montaignes schlichte Erklärung für diese Freundschaft — «Weil er es war, weil ich es war» — wurde zum geflügelten Wort, beschrieb sie doch das transzendente Geheimnis jeder menschlichen Zuneigung.
In ihrer Autobiographie berichtete George Sand, wie beeindruckt sie in ihrer Jugend von Montaignes und La Boéties Beziehung gewesen sei, diesem Prototyp einer spirituellen Freundschaft, die sie für sich selbst ersehnte und später in der Beziehung zu Flaubert und Balzac auch fand. Der Dichter Alphonse de Lamartine empfand es ähnlich. In einem Brief urteilte er über Montaigne: «Das Einzige, was ich an ihm bewundere, ist seine Freundschaft mit La Boétie.» In einem früheren Brief an denselben Freund hatte er bereits Montaignes Formulierung zur Beschreibung seiner eigenen Empfindungen übernommen: «Weil du du bist und ich ich bin.» Ja, er betrachtete Montaigne selbst als einen solchen Gefährten und spricht vom «Freund Montaigne, ja: Freund».
Diese neue Montaigne-Begeisterung manifestierte sich auch darin, dass sein Turm zu einer regelrechten Pilgerstätte wurde. Von Neugier getrieben, strömten die Besucher herbei, um in hingerissener Versunkenheit seinem Geist nachzuspüren. Manche hatten fast das Gefühl, sich für einen kurzen Augenblick in Montaigne zu verwandeln.
In den Jahrhunderten zuvor war dies anders gewesen. Montaignes Nachkommen bewohnten das Schloss bis 1811, und niemanden kümmerte es, dass das Erdgeschoss des Turms als Kartoffellager diente und das Schlafzimmer im ersten Stock zeitweilig Hunde, später Hühner beherbergte. Das änderte sich erst, als aus den wenigen Besuchern der Frühromantik ein stetiger Strom geworden war und man anfing, Montaignes Arbeitsumfeld zu rekonstruieren.
Die Romantiker verspürten den Wunsch, Montaigne nahe zu sein, wie man dem Menschen nahe sein will, den man liebt: aus demselben Fenster zu blicken wie er oder den Raum zu betreten, wo sein Schreibtisch stand und seine Essais entstanden sind. Wenn man den Trubel im Hof und die Unruhe ausblendete, die gewiss auch sein Zimmer erreichte, konnte man sich den Turm als die Zelle eines Einsiedlers vorstellen. «Eilen wir, die Schwelle zu überschreiten», schrieb Charles Compan, einer dieser frühen Besucher, über Montaignes Turmbibliothek:
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