Tupinambá-Indianer beim Tanz, Darstellung von Theodore de Bry, 1552
Montaigne war ein begeisterter Leser Lérys, und als er in dem Kapitel «Über die Menschenfresser» von seiner eigenen Begegnung mit den Tupinambá berichtete, folgte er Lérys Beispiel, den Gegensatz zu Frankreich und die Implikationen für das Überlegenheitsgefühl der Europäer zu betonen. In dem Kapitel «Über Wagen» bemerkte er auch, dass die künstlichen Gärten und die prächtigen Paläste der Inkas und Azteken deren europäische Äquivalente weit in den Schatten stellten. Die einfachen Tupinambá jedoch schätzte Montaigne sehr viel höher ein. Er beschrieb sie mit einer Liste von Negationen, die durchaus erstrebenswerte Zustände erkennen ließen:
Hier haben wir ein Volk […], in dem es keinerlei Handel gibt, keine Kenntnis von Buchstaben, keine Rechenlehre, keine Bezeichnung für Behörde oder Obrigkeit , keine Dienstbarkeiten, keinen Reichtum und keine Armut; keine Verträge, keine Erbfolge und keine Güterteilung; keine beschwerlichen Tätigkeiten und keine Berücksichtigung einer anderen als der zwischen allen Menschen bestehenden Verwandtschaft; keine Bekleidung, keinen Ackerbau und kein Metall; keine Verwendung von Getreide oder Wein. Selbst Wörter wie Lüge , wie Verstellung und Verrat , wie Habsucht und Neid , wie Verleumdung und Verzeihen: unbekannt.
Eine solche «Negativaufzählung» war in der antiken Literatur ein geläufiger Topos und findet sich bereits in einem viertausend Jahre alten sumerischen Keilschrifttext:
Es war einmal eine Zeit, da gab es keine Schlangen und keine Skorpione,
keine Hyänen und keine Löwen,
keine wilden Hunde und keine Wölfe,
keine Angst und keinen Schrecken,
der Mensch hatte keinen Rivalen.
Es war nur folgerichtig, dass dieser Topos auch in Renaissancetexten über die Neue Welt auftauchte, sich diese Tradition also fortsetzte. Im 19. Jahrhundert beschrieb Herman Melville das glückselige Tal von Taipi auf den Marquesas-Inseln, wo «keine Hypotheken oder protestierten Wechsel fällig und keine Rechnungen zu bezahlen waren; man kannte keine Ehrenschulden […], keine armen Verwandten […], keine bedürftigen Witwen […], keine Bettler; keine Schuldgefängnisse; keine stolzen, hartherzigen Nabobs in Taipi — oder, um alles in einem Wort zusammenzufassen — kein Geld!» Die Menschen, so die Vorstellung, seien glücklicher, wenn sie ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur führten wie Adam und Eva im Garten Eden. Den Stoikern hätten solche Phantasien über ein Goldenes Zeitalter gefallen. Seneca stellte sich eine urzeitliche Welt vor, in der kein Besitz gehortet, mit Waffen keine Gewalt ausgeübt wurde und keine Abwässer die Flüsse verschmutzten. Es gab keine Häuser, und man schlief besser, weil keine Dachbalken knisterten, die einen aus dem Schlaf rissen.
Auch Montaigne reizten solche Phantasien. Diese Wilden, schrieb er, behielten im gleichen Sinn, «wie wir die Früchte wild nennen», ihr volles natürliches Aroma. Deshalb seien sie auch solcher Tapferkeit fähig, denn ihr Verhalten im Kampf sei nicht durch Gier verfälscht. Selbst die kannibalischen Rituale der Tupinambá seien nicht barbarisch, sondern Zeichen einer ursprünglichen Primitivität. Die Opfer bewiesen erstaunlichen Mut, während sie ihr Schicksal erwarteten, ja sie forderten ihre Bewacher sogar mit höhnischen Bemerkungen heraus. Beeindruckt war Montaigne von einem Lied, in dem ein Gefangener seine Gegner aufforderte, flugs herbeizueilen und sich gütlich zu tun. «Merkt ihr denn nicht», heißt es darin, «dass noch Saft und Kraft der Glieder eurer Ahnen darin steckt? Lasst sie euch munden, denn so kommt ihr auf den Geschmack eures eignen Fleisches!» Eine archetypische Szene: Der Besiegte ist zwar dem Tod geweiht, aber er beweist stoische Unerschütterlichkeit. Hierzu, so die Schlussfolgerung, seien nur Menschen fähig, die ihrer wahren Natur folgten.
Der Gesang des Gefangenen ist eines der beiden «Kannibalenlieder», die in Montaignes Essais auftauchen. Das zweite, gleichfalls von den Tupinambá, ist ein Liebeslied, das Montaigne vielleicht 1562 in Rouen gehört hatte, denn er lobte dessen Klang. Die Sprache der Eingeborenen, schreibt er, habe einen «sanften und angenehmen Tonfall, der an den Wohllaut griechischer Endungen erinnert». In einer Prosaübersetzung lautet der Text des Liedes:
Verweile Schlange, verweile Schlange, es soll die Schwester nach deinen Farben ein Halsband sticken, ein reiches Halsband für meine Freundin. So, schöne Schlange, wird deine Schönheit und deine Farbe vor allen Schlangen der Welt gepriesen.
Montaigne gefiel die schlichte Eleganz dieser Zeilen, die in scharfem Kontrast zur überfeinerten europäischen Verskunst seiner Zeit stand. In einem anderen Essai meinte er, solche «rein natürliche Volksdichtung» (zu der er auch die traditionelle villanelle seiner heimatlichen Guyenne zählte) könne es mit der «Schönheit vollendeter Kunstdichtung durchaus aufnehmen». Und selbst mit der klassischen Dichtkunst könne sie konkurrieren.
Montaignes «Liebeslied eines Kannibalen» führte außerhalb der Essais ein beachtliches Eigenleben. Chateaubriand entlieh es sich für seine Erinnerungen von jenseits des Grabes , wo es von einer hübschen vierzehnjährigen Indianerin gesungen wird. Nach der Entdeckung des Volkslieds im 18. Jahrhundert wurde es auch in Deutschland bekannt, das an Montaigne zunächst wenig Interesse zeigte. Die beiden Lieder der Kannibalen waren neben einigen lobenden Bemerkungen Montaignes über deutsche Öfen das Einzige aus seinem Werk, das man bis Nietzsche überhaupt wahrnahm. «Verweile Schlange» wurde unter anderem von Ewald Christian von Kleist und Johann Gottfried Herder sowie von Goethe unter dem Titel Liebeslied eines amerikanischen Wilden und Todeslied eines Gefangenen übersetzt. Die deutschen Romantiker mit ihrer Begeisterung für Lieder von Liebe und Tod griffen die von Montaigne übertragenen Lieder auf, alles andere ignorierten sie — aber ähnlich verfahren ja die meisten Leser.
Wie Léry könnte man auch Montaigne den Vorwurf machen, die Völker der Neuen Welt romantisch zu verklären, doch sein Verständnis der psychologischen Komplexität des Menschen war viel zu tief, als dass er sie zugunsten eines Lebens in der reinen, ungezähmten Natur geopfert hätte. Er wusste, dass die amerikanischen Kulturen ebenso dumm und grausam sein konnten wie die europäischen. Und da Grausamkeit jenes Laster war, das er am meisten verabscheute, versuchte er nicht, deren blutrünstige Rolle in den Religionen der Neuen Welt zu beschönigen. «So verbrennt man die Opfer oft lebendigen Leibes, und wenn sie halb gebraten sind, zerrt man sie vom Feuer, um ihnen Herz und Eingeweide herauszureißen. Manchen, darunter sogar Frauen, zieht man, wiederum lebendigen Leibes, die Haut ab, um diese, bluttriefend wie sie ist, anderen überzuwerfen und sie mit ihr zu maskieren.»
Er fügte aber hinzu, diese Grausamkeiten wirkten vor allem deshalb so blutrünstig, weil sie den Europäern fremd seien. Auch in Europa gebe es schreckliche Praktiken, an die man sich jedoch gewöhnt habe. «Was mich ärgert, ist keineswegs, dass wir mit Fingern auf die barbarische Grausamkeit solcher Handlungen zeigen», schrieb er, «sehr wohl aber, dass wir bei einem derartigen Scharfblick für die Fehler der Menschenfresser unseren eignen gegenüber so blind sind.» Montaigne wollte, dass seine Leser die Augen öffneten und sahen. Die Völker Südamerikas faszinierten ihn nicht um ihrer selbst willen, sie waren ein idealer Spiegel, in dem Montaigne und seine Landsleute sich «aus dem rechten Blickwinkel» betrachten konnten, um aus ihrer Selbstzufriedenheit wachgerüttelt zu werden.
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