Edle Wilde
Zur selben Zeit, da sich deutsche Leser ausschließlich für Montaignes Volkslieder interessierten, wurde er von einer neuen Generation französischer Leser wiederentdeckt, die mit den Kannibalen als Spiegelbild ihrer selbst sehr viel mehr anfangen konnten, als Montaigne erwarten durfte.
Den Anstoß dazu gab eine Ausgabe der Essais , die 1724 erschien. In Frankreich waren die Essais schon seit fünfzig Jahren verboten, jetzt aber wurden sie aus England eingeschmuggelt, als der französische Exilant Pierre Coste, ein Protestant, eine Neuausgabe herausbrachte. Coste stellte ganz bewusst Montaignes subversive Seite in den Vordergrund — nicht indem er in den Text eingriff, sondern indem er Texte hinzufügte, vor allem La Boéties Traktat Von der freiwilligen Knechtschaft , das in seiner Ausgabe von 1727 vollständig enthalten ist. Damit wurde diese Schrift seit den protestantischen Traktaten des 16. Jahrhunderts zum ersten Mal überhaupt veröffentlicht, und zum allerersten Mal erschien sie gemeinsam mit den Essais — und damit wurde Montaigne plötzlich in ein ganz anderes Licht gerückt. Er gewann die Aura eines Rebellen, im politischen wie im privaten Leben, eines Autors, dessen Philosophie der Unerschütterlichkeit ganz andere Bedeutungsebenen barg. Das von Coste vermittelte Image Montaignes als eines heimlichen Radikalen ist bis heute lebendig. Costes Ausgabe ließ Montaigne als einen freidenkerischen Philosophen der Aufklärung erscheinen, der zweihundert Jahre zu früh geboren worden war. Die Leser des 18. Jahrhunderts erkannten sich in ihm wieder und fragten sich, warum es so lange gedauert hatte, bis man ihn wirklich verstand.
Diese neue Generation «aufgeklärter» Leser war von Montaignes Darstellung der mutigen Tupinambá begeistert. Seine kannibalischen Stoiker entsprachen perfekt einer neuen Phantasiegestalt: der Figur des edlen Wilden, in dem sich primitive Einfalt mit antikem Heroismus verband und der jetzt zum Objekt einer fast kultischen Verehrung wurde. Anhänger dieses Kults machten sich Montaignes Ansicht zu eigen, Kannibalen hätten ein eigenes Ehrgefühl und hielten der europäischen Zivilisation den Spiegel vor. Dabei ließen sie jedoch außer Acht, dass für Montaigne auch diese Wilden genauso grausam und barbarisch waren wie alle anderen Menschen.
Zu denen, die von Montaignes Tupinambá angetan waren, zählte der Aufklärer Denis Diderot, einer der Herausgeber der Encyclopédie , einer Monumentalsammlung des gesamten Wissens seiner Zeit. Diderot schrieb aber auch zahllose philosophische Romane, Theaterstücke und Briefe. Er kam schon früh mit Montaignes Essais in Berührung und zitierte daraus in seinen eigenen Werken, nicht immer unter Angabe der Quelle. In dem kurzen Text Supplément au voyage de Bougainville von 1775 (zuerst veröffentlicht 1796) beschrieb Diderot voller Begeisterung die Völker des Südpazifiks, die erst kurz zuvor von den Europäern «entdeckt» worden waren — das zeitgenössische Äquivalent zu Montaignes amerikanischen Eingeborenen. Wie die Tupinambá führten scheinbar auch die Bewohner der Pazifikinseln ein einfaches Leben fast im Zustand der Unschuld. Unerquickliche Aspekte ihrer Kultur konnte man einfach ausblenden, weil die Europäer ohnehin kaum etwas über sie wussten. Es blieb also viel Spielraum für phantasievolle Ausschmückungen, etwa die Vorstellung hedonistischer sexueller Freizügigkeit dieser Eingeborenen. In Diderots Supplément ermahnt einer der Tahitianer die Europäer, sie bräuchten nur ihrer Natur zu folgen, um glücklich zu werden. Das war es, was seine Landsleute hören wollten.
Das Bild des edlen Wilden wurde von Jean-Jacques Rousseau weiter ausgemalt, der gleichfalls von Montaigne beeinflusst war. Sein mit Anmerkungen versehenes Exemplar der Essais ist bis heute erhalten. Anders als Diderot sah Rousseau in der primitiven Gesellschaft ein Ideal, das nirgendwo auf der Welt verwirklicht worden sei, auch nicht im Pazifik. Sie bilde lediglich den idealtypischen Gegenpol zu realen Gesellschaften. Jede real existierende Zivilisation, so Rousseau, sei per definitionem korrumpiert.
In seinem Diskurs über die Ungleichheit stellt er sich vor, wie der Mensch ohne die Ketten der Zivilisation leben würde: «Ich sehe ein Tier […], wie es sich unter einer Eiche satt isst, wie es am erstbesten Bach seinen Durst löscht, wie es sein Bett am Fuße desselben Baumes findet, der ihm sein Mahl geliefert hat.» Die Erde gibt ihm alles, was er zum Leben braucht. Sie verhätschelt ihn nicht, aber er muss auch nicht verhätschelt werden. Die harten Lebensbedingungen, an die dieser Mensch von Kindheit an gewöhnt war, haben ihn robust und widerstandsfähig gegen Krankheiten gemacht, und er ist stark genug, wilden Tieren unbewaffnet entgegenzutreten. Er kennt keine Axt, benutzt aber seine Muskeln, um dicke Äste abzubrechen. Er verfügt weder über Schleuder noch Gewehr, aber er kann einen Stein mit solcher Kraft werfen, dass ein Raubvogel, der davon getroffen wird, tot zu Boden stürzt. Er kann ebenso schnell laufen wie ein Pferd. Erst «indem er soziabel und Sklave wird, wird er schwach» und lernt die Furcht kennen — und die Verzweiflung. Nie habe man gehört, sagt Rousseau, dass ein Wilder in Freiheit auch nur daran gedacht hätte, sich selbst zu töten. Der zivilisierte Mensch dagegen verliere sogar sein natürliches Mitgefühl. Wenn jemand einem anderen unter dem Fenster eines Philosophen die Kehle durchschneidet, wird sich der Philosoph die Ohren zuhalten und tun, als hätte er nichts gehört. Der natürliche Mensch würde niemals seine innere Stimme ignorieren, die ihm sagt, sich mit seinen Mitmenschen zu identifizieren — eine Stimme sehr ähnlich Montaignes Aufforderung zu Mitgefühl für alle leidenden Kreaturen.
Wenn man die Chronologie umdreht und sich vorstellt, Montaigne säße in seinem Lehnstuhl und läse Rousseau, könnte man sich fragen, wie lange es gedauert hätte, bis er das Buch weggelegt hätte. Anfangs wäre er ihm vielleicht gefolgt, doch schon ein paar Abschnitte später wäre er unter der Wucht von Rousseaus volltönender Rhetorik ins Grübeln gekommen. Montaigne würde innehalten und versuchen, die Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Macht uns die Gesellschaft wirklich herz- und gefühllos, würde er sich fragen. Geht es uns in der Gemeinschaft mit anderen denn nicht besser als allein? Ist der Mensch wirklich frei geboren? Ist er nicht von Anfang an voller Schwächen und Unvollkommenheiten? Geht Geselligkeit wirklich Hand in Hand mit Sklaverei? Und kann, nebenbei gefragt, ein ohne Schleuder geworfener Stein wirklich einen Raubvogel töten?
Rousseau dagegen hält nie inne oder wechselt die Blickrichtung, er prescht immer weiter vorwärts und reißt viele Leser mit sich. So wurde er zum populärsten Autor seiner Zeit. Schon nach wenigen Seiten erkennt man, wie sehr sich Rousseau von Montaigne unterscheidet, auch wenn viele seiner Ideen von ihm stammen. Der Gefahr, sich in primitivistische Phantasien zu flüchten, entgeht Montaigne dadurch, dass er schon beim Sprechen einen Schritt zur Seite tritt. Sein «Ich bin mir nicht sicher» kommt ihm immer wieder dazwischen. Außerdem verfolgt er ein ganz anderes Ziel als Rousseau. Er will nicht zeigen, dass die moderne Zivilisation korrumpiert ist, sondern dass die Sicht des Menschen auf die Welt von Natur aus korrumpiert und einseitig ist. Das gilt für die brasilianischen Ureinwohner und ihren Blick auf die Franzosen in Rouen ebenso wie für Léry oder Thevet in Brasilien. Die einzige Hoffnung, aus dem Nebel der Fehlinterpretation herauszufinden, besteht darin, sich dieses Nebels bewusst zu werden — und vor sich selbst auf der Hut zu sein. Aber auch das ist keine Lösung, denn wir können unseren Beschränktheiten niemals entfliehen.
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