»Ich wünsche keine Diskussion.« Er wandte sich ab.
»Aber mit dir ist etwas geschehen. Du scheint überhaupt kein Gefühl mehr übrig zu haben für mich, für deine Tochter – nur deine verdammte Abteilung zählt noch.«
Er schniefte wieder, den Kopf leicht gesenkt. Die Art und Weise, wie er sie unter seinen Brauen hervor ansah, ängstigte sie.
»Mit mir ist etwas geschehen«, sagte er leise. »Mein Sohn ist ertrunken. Wegen dieses Krieges, der Gier meiner Schwester und deiner Weigerung, in Nassau zu bleiben. Und jetzt laß mich bitte in Ruhe, damit ich essen kann.«
Er setzte sich neben den kalten Ofen in der Küche, aß drei Bissen und warf den Rest weg. Er ging ins Schlafzimmer, zündete die Gaslampe an und schloß die Tür. Nachdem er sich ausgezogen hatte, türmte er zwei Zudecken über sich, fror aber immer noch.
Bald darauf kam Judith herein. Sie zog sich aus, löschte die Lampe und kam zu ihm ins Bett gekrochen. Er lag mit dem Rücken zu ihr, das Gesicht zur Wand. Sie achtete sorgfältig darauf, ihn nicht zu berühren. Er glaubte sie weinen zu hören, drehte sich aber nicht um. Er schlief ein, mit seinen Gedanken bei den Zeichnungen des Fisch-Schiffes.
Einmal pro Woche wiederholte Madeline ihre Dinner-Einladung. Gegen Ende Mai setzte Judith es schließlich durch, daß Cooper sich für einen Abend vom Marineministerium freimachte. An diesem Tag schickte er um vier Uhr eine Nachricht, daß er später kommen würde. Erst gegen halb neun kam seine Kutsche in der Marshall Street an.
In der großen Wohnung in der oberen Etage umarmten sich die Brüder. »Wie geht’s dir, Cooper?« Orry roch Whiskey; der Anblick des blassen, heruntergekommenen Gastes entsetzte ihn.
»Viel Arbeit im Ministerium.« Die Antwort rief bei Judith ein Stirnrunzeln hervor.
Sie setzten sich zu Tisch. »Orry wird euch Rotwein einschenken, oder Wasser, falls ihr das vorzieht«, sagte Madeline. »Ich weigere mich, dieses üble Gebräu aus gemahlenen Erdnüssen zu servieren, das sie als Kaffee verkaufen.«
»Sie verkaufen eine Menge merkwürdiger Sachen«, sagte Judith. »Kermesbeerensaft als Tinte – « Sie hielt inne, als Cooper seinem Bruder das Glas entgegenstreckte. Orry schenkte es halbvoll mit Wein, aber Cooper zog seine Hand nicht zurück. Orry räusperte sich und füllte das Glas ganz.
»Einige – « Cooper stürzte die Hälfte des Weines hinunter; dunkle Tropfen befleckten sein bereits schmutziges Hemd. »– einige Leute in dieser Stadt trinken richtigen Kaffee und schreiben mit richtiger Tinte. Einige können diese Sachen bezahlen.« Er starrte seinen Bruder an. »Unsere Schwester zum Beispiel.«
»Tatsächlich?« sagte Madeline mit bemühter Leichtigkeit. Coopers starrer Blick war mürrisch, seine Sprache schleppend. Etwas Häßliches lag in der Luft.
»Ich gebe zu, Ashton lebt in einem schönen Haus«, sagte Orry. »Und die paar Mal, die ich sie auf der Straße gesehen habe, war sie stets gut gekleidet – Pariser Schick oder sowas. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sich das bei Huntoons Gehalt leisten kann.«
Cooper atmete tief und rauh ein. Judiths Hände verkrampften sich unter dem Tisch. »Ich kann dir sagen, wie sie sich den Luxus leisten können, Orry. Sie sind Kriegsgewinnler.«
Orry legte die Gabel ab. »Das ist eine schwere Beschuldigung.«
»Ich war auf ihrem Schiff, gottverdammt!«
»Lieber«, fing Judith an, »wir sollten vielleicht besser – «
»Es ist an der Zeit, daß sie Bescheid wissen.«
»Welches Schiff meinst du?« fragte Orry. »Der untergegangene Blockadebrecher? Auf dem du –?«
»Ja, ich meine die Water Witch. Ashton und ihr Mann sind zu einem Großteil an dem Schiff beteiligt. Die Eigner erteilten dem Kapitän den grundsätzlichen Befehl, die Blockade um jeden Preis und zu jedem Risiko zu durchbrechen. Wir taten es, und ich verlor meinen Sohn.«
Merklich erregt füllte Orry das Glas von Cooper auf. »Wer weiß sonst noch über Ashton und James Bescheid?«
»Die anderen Eigner, nehme ich an. Ihre Namen habe ich nie gehört. Der einzige Mann an Bord mit diesen Informationen schien der Kapitän zu sein, und der ertrank wie – « Coopers Gesicht zuckte.
Er trank, starrte vor sich hin in die Kerzenflamme. »Ich möchte sie umbringen«, sagte er und stellte sein Kelchglas so hart ab, daß der Stiel brach.
»Entschuldigt mich«, sagte Cooper, von seinem Stuhl aufspringend, der krachend umstürzte. Er streckte die Hand aus, um eine Kollision mit der Wand zu vermeiden, und schwankte ins Wohnzimmer. Er erreichte gerade noch die Couch, bevor er zusammensackte.
Judith entschuldigte sich noch einmal für Coopers Benehmen. Orry, selbst aufgewühlt, sagte, eine Entschuldigung sei unnötig. »Ich hoffe bloß, er meinte die letzte Bemerkung nicht ernst.«
»Sicher nicht. Der Verlust von Judah war für uns beide tragisch, aber ihn scheint es besonders getroffen zu haben.«
Orry seufzte. »Sein ganzes Leben lang hat er die Welt stets für besser gehalten, als sie tatsächlich ist. Menschen mit dieser Art von Idealismus werden am schlimmsten verletzt. Hoffentlich handelt er nicht übereilt, Judith. Ashton hat bereits in dem Punkt, der ihr in Richmond am meisten bedeutete, einen Fehlschlag erlitten – zu den besten Kreisen zu gehören. Die Bestrafung für ihre Profitmacherei wird sie schon noch ereilen. Wenn er sie zu richten versucht«, er warf einen Blick über die Schulter auf die traurige Vogelscheuche auf dem Sofa, »dann wird er nur sich selbst weh tun.«
Ein Windstoß blähte die Wohnzimmervorhänge, strich über das grausträhnige Haar in Coopers Stirn. Judith sagte: »Das versuche ich ihm ja beizubringen. Es nützt nichts. Er trinkt stark, wie ihr sicher bemerkt habt. Ich habe Angst vor dem, was er vielleicht mal tut, wenn er zuviel hat.«
Die Worte, leise und sanft gesprochen, lösten tiefe Bestürzung bei Orry aus. Schweigend saßen die drei da und lauschten dem Regen, der auf das Dach und die Trümmer dieses Abends fiel.
Jede Woche gelangten einige Exemplare vom Richmond Enquirer ins Winder-Gebäude. Eine Ausgabe, die George mit einem Gemisch aus Neugier und Trauer las, enthielt mehrere lange Artikel über Jacksons Beerdigung. Auf einer Seite war eine Liste mit hohen Offizieren abgedruckt, die bei der Prozession mitmarschiert waren. Darunter entdeckte George den Namen seines besten Freundes.
»Da ist es – Colonel Orry Main«, sagte er zu Constance, als er ihr am Abend die Zeitung zeigte. »Er ist zusammen mit anderen vom Kriegsministerium aufgeführt.«
»Bedeutet das, er ist in Richmond?«
»Ich denke schon. Was immer er tut, ich bin sicher, es ist wichtiger, als Gespräche mit Verrückten zu führen und in Verträgen das Kleingedruckte zu lesen.«
Mit einer Spur Bedauern in der Stimme sagte sie: »Du läßt dich schon wieder von deinen Schuldgefühlen überwältigen.«
Er faltete die Zeitung zusammen. »Ja, das tue ich. Jeden Tag.«
Homer betrat das Speisezimmer und machte Meldung.
Huntoon nahm seine Brille ab. »Mr. Main? Welcher? Orry?«
Wie stets wandte sich der alte Neger mit seiner Antwort an Ashton. »Nein. Der andere.«
»Cooper? Na sowas. Ich hatte keine Ahnung, daß er sich in Richmond befindet, James.«
Im Nordwesten donnerte es; bläuliches Licht zuckte und gleißte. Es war ein schwüler Juni, und die Stadt kochte über mit Gerüchten von einem bevorstehenden Einfall in den Norden durch General Lee.
»Er ist hier, er ist eindeutig hier«, drang eine belegte Stimme aus dem Schatten vor dem Speisesaal. Eine erschreckende Gestalt trat durch die Tür – tatsächlich Cooper, aber gealtert, seit Ashton ihn das letztemal gesehen hatte. Schrecklich gealtert und grau. Seine Wangen waren wächsern, und seine Whiskeyfahne rollte wie eine Woge über den Tisch. »Er ist hier und kann es kaum erwarten zu sehen, wie seine liebe Schwester und ihr Ehemann ihren neuerworbenen Reichtum genießen.«
Читать дальше