»Da muß ein Irrtum vorliegen«, flüsterte Bent, drehte sich um und stolperte auf die Treppe zu.
»Ganz sicher. Typisch für die Armee.« Elmsdale seufzte. »Gibt nichts, was wir dagegen tun könnten.«
Bent hörte nichts mehr; er schleppte sich die Stufen hoch, einen staubigen Flur entlang, in dem es nach Hammelfleisch und Zwiebeln roch. Bei dem Gedanken an das Abendessen drehte es ihm schon den Magen um. Endlich gelangte er zu seinem Zimmer. Er knallte die Tür zu. Sank auf die Bettkante. Frontdienst. Analphabeten in der Wildnis kommandieren, wo man jederzeit riskierte, eine Kugel von einem Südstaatensympathisanten einzufangen.
Was war geschehen? In der abgestandenen Dunkelheit, in der es nach Uniformbaumwolle und seinem eigenen Schweiß roch, kamen ihm fast die Tränen. Wo war sein Beschützer? Seit Bents Jugendzeit hatte dieser Mann insgeheim für ihn gearbeitet. Hatte für die Akademieberufung von Ohio aus gesorgt und dann, nach den Machenschaften von Hazard und Main und seiner Entlassung, mit einem Gesuch beim Kriegsminister seine erneute Zulassung erwirkt. Bis auf den unvermeidlichen Dienst im Mexikanischen Krieg und der einen Abkommandierung nach Texas hatte man ihn immer auf einen ruhigen, sicheren Posten gesetzt. Die Armee hatte ihn behalten, ungefährdet von –
Bis jetzt.
Mein Gott, sie schickten ihn ins Exil. Angenommen, er landete bei den Kampftruppen? Er könnte sterben. Warum hatte ihn sein Beschützer im Stich gelassen? Sicher war es ohne Absicht geschehen. Sicher wußte bis auf einige Schreibstubenhengste niemand was von diesen Befehlen. Das mußte die Erklärung sein.
Immer noch zitternd entschied er, was zu tun war. Es war eine Verletzung der schon lange bestehenden Vereinbarung, daß er nie in direkte Verbindung zu seinem Beschützer treten durfte. Aber diese Krise, diese absolute Katastrophe hatte Vorrang.
Er rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, und erschreckte Elmsdale, der gerade hochkam. »Der Nebel da draußen ist mächtig dicht geworden. Wenn Sie rausmüssen, vergessen Sie Ihren Revolver nicht.«
»Ich brauche von Ihnen keinen Rat.« Bent schob ihn beiseite. »Aus dem Weg!« Mit wild schwingender Säbelscheide torkelte er zur Tür hinaus. Elmsdale fluchte und dachte für sich: Wie hat es ein Verrückter wie der da bloß geschafft, in der Armee zu bleiben?
7
Die Mietkutsche bog in die Nineteenth, wo der Abstand zwischen den einzelnen Häusern immer größer wurde. Die Reichen bauten in diesem abgelegenen Teil, um dem Dreck und den Gefahren der Innenstadt zu entrinnen.
»Welches Haus zwischen K und L?« rief der Kutscher.
»Da gibt’s nur eins. Nimmt den ganzen Block ein.«
Bent hing am inneren Haltegriff, als wäre es eine Rettungsleine im Ozean. Sein Mund fühlte sich heiß und ausgedörrt an, sein restlicher Körper kalt. Der Nebel vom Potomac hängte selbst über die hellsten Fenster schmutzige Gazevorhänge.
Bents Ziel war die Residenz eines Mannes namens Heyward Starkwether. Im üblichen Sinne besaß Starkwether, der aus Ohio stammte, weder einen Beruf noch ein Büro noch eine erkennbare Einkommensquelle, obwohl er seit fünfundzwanzig Jahren in dieser Stadt lebte. Neue, unerfahrene Reporter in Washington bezeichneten ihn manchmal als Lobbyisten. Elkanah Bent wußte nicht viel über Starkwethers Angelegenheiten, aber er wußte zumindest soviel, daß die Bezeichnung Lobbyist zu dem Mann genauso paßte, als hätte man Alexander den Großen einen gemeinen Soldaten genannt.
Das Gerücht ging um. daß Starkwether gewaltige New Yorker Geldinteressen repräsentierte, Männer, deren Einfluß und Reichtum von olympischen Dimensionen war. Männer, die jedes Gesetz ignorieren konnten, wenn es ihnen in den Sinn kam, und die Regierungspolitik nach ihren persönlichen Absichten formten. Auf ihr Geheiß, so wurde gemunkelt, unterhielt Starkwether seit zwei Jahrzehnten Freundschaften auf höchster Regierungsebene.
»Biegen Sie hier ein«, rief er. Der Kutscher hätte beinahe die Einfahrt zu dem Herrschaftshaus verpaßt, das einem griechischen Tempel glich. Nebel verbarg die weitläufigen Flügel und oberen Stockwerke; die leere Einfahrt und das Fehlen erleuchteter Fenster verwirrten Bent.
»Warten Sie auf mich«, sagte Bent und ging die weiten Marmorstufen zum Eingang hoch. Er ließ einen der Türklopfer, einen gewaltigen Löwenkopf, zweimal fallen. Der Ton dröhnte auf und verhallte. War sein Beschützer verreist? Erneut klopfte er. Ein ältlicher Diener mit geröteten Augen öffnete ihm. Bevor er den Mund aufmachen konnte, sprudelte der Besucher heraus: »Ich bin Colonel Elkanah Bent. Ich muß Mr. Starkwether sehen. Es ist dringend.«
»Ich bedaure sehr, Colonel, aber das ist unmöglich. Heute nachmittag hatte Mr. Starkwether einen unerwarteten«, der alte Mann hatte Schwierigkeiten, das Wort auszusprechen, »Anfall.«
»Sie meinen einen Schlaganfall.«
»Jawohl, Sir.«
»Aber er lebt, es geht ihm soweit gut, ja?«
»Der Schlaganfall war tödlich, Sir.«
Bent ging zur Kutsche zurück; er sah nichts, hörte nichts, und er fragte sich, wie er selbst überleben sollte, jetzt, da er seinen Vater verloren hatte.
8
»Er kommt hierher? Mit dieser katholischen Hündin, die über uns thront, als wäre sie eine Königin? Stanley, du Schwachkopf! Wie konntest du das zulassen?«
»Isabel«, begann er mit schwacher Stimme, während sie an das Wohnzimmerfenster stürzte. Sie zeigte ihm die Rückseite ihres eintönig grauen Reifrocks und der dazu passenden Jacke, die sie täglich trug. Sie stöhnte so laut, daß man hätte meinen können, irgendein Mann würde sie vergewaltigen. Verdammt geringe Chance, daß sie das zuläßt, dachte Stanley mürrisch.
Seine Frau warf die Reifen hoch, um sich schnell umdrehen zu können, zu einer weiteren Konfrontation. »Warum um Himmels willen hast du keine Einwände dagegen erhoben?«
»Hab’ ich doch! Aber Cameron will ihn haben.«
»Aus was für einem Grund?«
Stanley bot einige von Camerons Erklärungssätzen an, so gut er sie noch im Gedächtnis hatte. Hingestreckt auf einem Stuhl endete er lahm: »Die Chancen stehen recht gut, daß er gar nicht kommt.«
»Ich wollte, wir wären auch nicht gekommen. Ich verabscheue diese verfluchte Stadt.«
Er saß schweigend da, während sie dreimal das Wohnzimmer durchschritt und einen Teil ihrer Wut abreagierte. Er wußte, daß ihre letzte Bemerkung nicht ernst gemeint war. Sie liebte Washington, weil sie die Macht liebte und die Nähe zu jenen, die sie ausübten.
Ihre gegenwärtigen Umstände waren freilich nicht ideal. Ein anständiges Quartier war schwer zu finden, und so waren sie gezwungen gewesen, diese staubige, alte Suite in dem höhlenartigen National Hotel zu mieten, ein Versammlungsort von Südstaaten-Anhängern. Stanley wünschte, sie könnten umziehen. Von der Politik mal abgesehen war ein Hotel einfach nicht der richtige Ort, um zwei eigensinnige heranwachsende Söhne zu erziehen. Manchmal blieben Laban und Levi in dem Irrgarten der Korridore für Stunden verschwunden. Als Stanley um sieben gekommen war, hatte ihm Isabel berichtet, daß sie Laban dabei überrascht hatte, wie er mit einem der jungen Zimmermädchen herumschäkerte. Stanley hatte seinem Sohn eine Ermahnung erteilt – für ihn quälend und für den trotzigen Jungen langweilig. Dann hatte er den Zwillingen befohlen, für eine Stunde lateinische Verben zu lernen, und hatte ihre Schlafzimmertür zugesperrt.
Isabel beendete ihren letzten Rundgang und hielt vor ihm an, die Arme über ihrem kleinen Busen verschränkt. Zwei Jahre älter als Stanley, war sie mit zunehmendem Alter immer abstoßender geworden.
Als Antwort auf ihren funkelnden Blick sagte er: »Isabel, versuch doch zu verstehen. Ich habe widersprochen, aber – «
»Nicht eindringlich genug. Du machst nie etwas eindringlich genug.«
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