Häufig saß ich auch allein bei Frau Nardini, hörte ihre erbaulichen Reden an und hatte meine unheilige Freude an ihren zahlreichen Menschlichkeiten. Ihr entging kein Fehler und Laster an ihren Nächsten, sie wies ihnen im voraus peinlich abschätzend ihre Plätze im Fegefeuer an. Mich aber hatte sie ins Herz geschlossen und vertraute mir die kleinsten Erlebnisse und Beobachtungen offen und umständlich an. Sie fragte mich nach jedem kleinen Einkauf, wieviel ich bezahlt habe, und wachte darüber, daß ich nicht übervorteilt würde. Sie ließ sich die Lebensläufe der Heiligen erzählen und machte mich dafür mit den Geheimnissen des Obstkaufs, des Gemüsehandels und der Küche bekannt. Eines Abends saßen wir in der gebrechlichen Halle. Ich hatte zum rasenden Entzücken der Kinder und Mädchen ein Schweizerlied gesungen und einen Jodler losgelassen. Sie wanden sich vor Lust, imitierten den Klang der fremden Sprache und zeigten mir, wie komisch mein Kehlkopf beim Jodeln auf und nieder gestiegen sei. Da begann jemand von der Liebe zu sprechen. Die Mädchen kicherten, Frau Nardini verdrehte die Augen und seufzte sentimental, und schließlich ward ich bestürmt, meine eigenen Liebesgeschichten zu erzählen. Ich schwieg über Elisabeth, erzählte aber meine Kahnfahrt mit der Aglietti und meine verunglückte Liebeserklärung. Es war mir sonderbar, diese Geschichte, von der ich außer Richard niemandem je ein Wort anvertraut hatte, nun meiner neugierigen, umbrischen Gesellschaft zu erzählen, angesichts der südlich schmalen, steinernen Gassen und der Hügel, über welchen der rotgoldene Abend duftete. Ich erzählte ohne viel Reflexion, nach Art der alten Novellen, und doch war mein Herz dabei, und ich hatte heimlich Furcht, die Zuhörer würden lachen und mich necken.
Aber als ich zu Ende war, hingen aller Augen teilnehmend traurig an mir.
»Ein so schöner Mann!« rief eines der Mädchen lebhaft aus. »Ein so schöner Mann, und er hat eine unglückliche Liebe!«
Frau Nardini aber fuhr mir mit ihrer weichen, runden Hand vorsichtig übers Haar und sagte: »Poverino!«
Ein anderes Mädchen schenkte mir eine große Birne, und da ich sie bat, den ersten Biß darein zu tun, tat sie es und sah mich dabei ernsthaft an. Als ich aber auch die andern beißen lassen wollte, litt sie es nicht. »Nein, essen Sie selbst! Ich habe sie Ihnen geschenkt, weil Sie uns Ihr Unglück erzählt haben.«
»Aber Sie werden nun gewiß eine andere lieben«, sagte ein brauner Weinbauer. »Nein«, sagte ich.
»Oh, Sie lieben immer noch diese böse Erminia?«
»Ich liebe jetzt den heiligen Franz, und er hat mich gelehrt, alle Menschen liebzuhaben, euch und die Leute von Perugia und auch alle diese Kinder hier, und sogar den Geliebten der Erminia.«
Eine gewisse Verwicklung und Gefahr kam in dies idyllische Dasein, als ich entdeckte, daß die gute Signora Nardini von dem sehnlichen Wunsch beseelt war, ich möchte endgültig dableiben und sie heiraten. Die kleine Affäre bildete mich zum listigen Diplomaten aus, denn es war keineswegs leicht, diese Träume zu zerstören, ohne die Harmonie zu verderben und die behagliche Freundschaft zu verscherzen. Auch mußte ich an die Rückreise denken. Wäre nicht der Traum meiner zukünftigen Dichtung und die drohende Ebbe meiner Kasse gewesen, so wäre ich dort geblieben. Ich hätte vielleicht auch, gerade der Ebbe wegen, die Nardini geheiratet. Doch nein, was mich abhielt, war mein noch nicht vernarbter Schmerz um Elisabeth und das Verlangen, sie wiederzusehen.
Die runde Witwe fügte sich wider Erwarten leidlich ins Unabänderliche und ließ mich ihre Enttäuschung nicht entgelten. Als ich abreiste, fiel mir vielleicht der Abschied viel schwerer als ihr. Ich verließ viel mehr, als ich je in der Heimat verlassen hatte, und nie war mir bei einer Abreise die Hand so herzlich und von so vielen lieben Menschen gedrückt worden. Die Leute gaben mir Früchte, Wein, süßen Schnaps, Brot und eine Wurst mit in den Wagen, und ich hatte das ungewohnte Gefühl, von Freunden zu scheiden, denen es nicht einerlei war, ob ich ging oder blieb. Frau Annunziata Nardini aber gab mir beim Scheiden einen Kuß auf beide Wangen und hatte Tränen in den Augen.
Früher hatte ich geglaubt, es müsse ein besonderer Genuß sein, geliebt zu werden, ohne selbst zu lieben. Ich hatte jetzt erfahren, wie peinlich eine solche sich darbietende Liebe ist, die man nicht erwidern kann. Und doch war ich ein wenig stolz darauf, daß eine fremde Frau mich liebte und zum Manne wünschte.
Schon diese kleine Eitelkeit bedeutete ein Stück Genesung für mich. Frau Nardini tat mir leid, und doch wünschte ich die Sache nicht ungeschehen. Auch sah ich allmählich immer mehr ein, daß das Glück mit der Erfüllung äußerer Wünsche wenig zu tun habe und daß die Leiden verliebter Jünglinge, so peinlich sie seien, aller Tragik entbehren. Es tat ja weh, daß ich Elisabeth nicht haben konnte. Aber mein Leben, meine Freiheit, Arbeit und Denkweise blieb mir unverkürzt, und aus der Ferne liebhaben konnte ich sie ja nach wie vor, soviel ich wollte. Diese Gedankengänge und noch mehr die naive Heiterkeit meines Daseins in den umbrischen Monaten waren mir überaus heilsam gewesen. Von jeher hatte ich ein Auge für alles Lächerliche und Schnurrige gehabt und mir nur die Freude daran selber durch Ironie verdorben. Nun ging mir allmählich der Blick für den Humor des Lebens auf, und es schien mir immer möglicher und leichter, mich mit meinen Sternen zu versöhnen und mir von der Tafel des Lebens noch den einen oder anderen schönen Bissen zu gönnen.
Freilich, wenn man von Italien heimreist, ist es immer so. Man pfeift auf Prinzipien und Vorurteile, lächelt nachsichtig, trägt die Hände in den Hosentaschen und kommt sich als durchtriebener Lebenskünstler vor. Man ist eine Weile im wohlig warmen Volksleben des Südens mitgeschwommen und denkt nun, das müsse zu Hause so weitergehen. Auch mir war es bei jeder Rückkehr aus Italien so gegangen und damals am meisten. Als ich nach Basel kam und dort das alte, steife Leben unverjüngt und unveränderlich antraf, stieg ich von der Höhe meiner Heiterkeit eine Stufe um die andere kleinlaut und ärgerlich herab. Aber etwas von dem Erworbenen keimte doch weiter, und seither trieb mein Schifflein durch klare und trübe Wasser nie mehr, ohne wenigstens einen kleinen farbigen Wimpel frech und zutraulich flattern zu lassen.
Auch sonst hatten sich meine Anschauungen langsam verändert. Ich fühlte mich ohne großes Bedauern den Jugendjahren entwachsen und den Zeiten entgegenreifen, da man das eigene Leben als eine kurze Wegstrecke betrachten lernt und sich selbst als Wanderer, dessen Gänge und schließliches Verschwinden die Welt nicht groß erregen und beschäftigen. Man behält ein Lebensziel, einen Lieblingstraum im Auge, aber man kommt sich nimmer unentbehrlich vor und gönnt sich unterwegs des öfteren Muße, um ohne Gewissensbisse eine Tagesstrecke zu versäumen, sich ins Gras zu legen, einen Vers zu pfeifen und der lieben Gegenwart ohne Hintergedanken froh zu werden. Bisher war ich, ohne daß ich jemals zu Zarathustra gebetet hatte, doch eigentlich ein Herrenmensch gewesen und hatte es weder an Selbstverehrung noch an der Mißachtung geringerer Leute fehlen lassen. Nun sah ich allmählich immer besser, daß es keine festen Grenzen gibt und daß im Kreise der Kleinen, Bedrückten und Armen das Dasein nicht nur ebenso mannigfalt, sondern zumeist auch wärmer, wahrhaftiger und vorbildlicher ist als das der Begünstigten und Glänzenden.
Übrigens kam ich gerade rechtzeitig nach Basel zurück, um an der ersten Abendgesellschaft im Hause der inzwischen verheirateten Elisabeth teilzunehmen. Ich war vergnügt, noch frisch und braun von der Reise, und brachte eine Menge lustiger, kleiner Erinnerungen mit. Die schöne Frau beliebte mich durch eine feine Vertraulichkeit auszuzeichnen, und ich freute mich den ganzen Abend meines Glückes, das mir seinerzeit die Blamage einer verspäteten Werbung erspart hatte. Denn trotz meiner italienischen Erfahrung hatte ich immer noch ein leises Mißtrauen gegen die Frauen, als müßten sie an den hoffnungslosen Qualen der in sie verliebten Männer ihre grausame Freude haben. Zur lebhaftesten Veranschaulichung eines solchen entehrenden und peinlichen Zustandes diente mir eine kleine Erzählung aus dem Kinderschulleben, die ich einst aus dem Mund eines fünfjährigen Knaben vernommen hatte. In der Kinderschule, die er besuchte, herrschte folgender merkwürdige und symbolische Brauch. Hatte ein Knabe sich einer allzu starken Unart schuldig gemacht und es sollten ihm dafür die Höslein gespannt werden, so wurden sechs kleine Mädchen beordert, den Widerstrebenden in der zu jener Züchtigung erforderlichen, peinlichen Lage auf der Bank festzuhalten. Da dies Festhaltendürfen als Hochgenuß und große Ehre galt, wurden nur jeweils die sechs artigsten Mädchen, die zeitweiligen Tugendausbünde, der grausamen Wonne teilhaftig. Die spaßige Kindergeschichte gab mir zu denken und hat sich sogar ein paarmal in meine Träume geschlichen, so daß ich wenigstens aus Traumerfahrung weiß, wie elend einem in solcher Lage ums Herz ist.
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