Was hatte nun mein Leben bedeutet, und wozu waren so viele Freuden und Schmerzen über mich hinweggegangen? Warum hatte ich Durst nach dem Wahren und Schönen gehabt, da ich heute noch ein Dürstender war? Warum hatte ich in Trotz und Tränen um jene begehrenswerten Frauen Liebe und Schmerzen gelitten – ich, der ich heute wieder das Haupt in Scham und Tränen um eine traurige Liebe neigte? Und warum hatte der unbegreifliche Gott mir das brennende Heimweh nach Liebe ins Herz getan, da er mir doch das Leben eines Einsamen und wenig Geliebten bestimmt hatte?
Das Wasser gurgelte dumpf am Bug und tröpfelte silbern von den Rudern, die Berge standen ringsum nahe und schweigend, über die Nebel der Schluchten wandelte das kühle Mondlicht. Und die Geister meiner Jugendzeit standen schweigsam um mich her und blickten mich aus tiefen Augen still und fragend an. Mir war, ich sähe unter ihnen auch die schöne Elisabeth, und sie hätte mich geliebt und sie wäre mein geworden, wenn ich zur rechten Zeit gekommen wäre.
Auch war mir, als wäre es am besten, ich sänke still in den bleichen See und es würde mir von niemand nachgefragt. Aber dennoch ruderte ich schneller, als ich merkte, daß der schlechte, alte Nachen Wasser zog. Mich fror plötzlich, und ich eilte, nach Haus und zu Bett zu kommen. Dort lag ich müd und wach und sann über mein Leben nach und suchte zu finden, was mir fehle und was mir nötig wäre, um glücklicher und echter zu leben und näher an das Herz des Daseins zu kommen.
Wohl wußte ich, daß aller Güte und Freude Kern die Liebe sei und daß ich beginnen müsse, trotz meines frischen Schmerzes um Elisabeth die Menschen ernstlich liebzuhaben. Aber wie? Und wen?
Da fiel mir mein alter Vater ein, und ich merkte zum erstenmal, daß ich ihn nie in der rechten Weise liebgehabt hatte. Als Knabe hatte ich ihm das Leben sauer gemacht, dann war ich fortgegangen, hatte ihn auch nach der Mutter Tod allein gelassen, mich oft seiner geärgert und ihn schließlich fast ganz vergessen. Ich mußte mir vorstellen, er läge auf dem Totenbett und ich stünde allein und verwaist daneben und sähe seine Seele entrinnen, die mir fremd geblieben war und um deren Liebe ich mich nie bemüht hatte.
So begann ich denn die schwere und süße Kunst, statt an einer schönen und bewunderten Geliebten an einem greisen, ruppigen Trinker zu lernen. Ich gab ihm keine groben Antworten mehr, beschäftigte mich nach Möglichkeit mit ihm, las ihm Kalendergeschichten vor und erzählte ihm von den Weinen, die in Frankreich und Italien wachsen und getrunken werden. Sein bißchen Arbeit konnte ich ihm nicht abnehmen, da er ohne das verwahrlost wäre. Auch gelang es mir nicht, ihn daran zu gewöhnen, daß er seinen Abendschoppen mit mir zu Hause statt in der Kneipe trank. Ein paar Abende versuchten wir es. Ich holte Wein und Zigarren und gab mir Mühe, dem alten Mann die Zeit zu vertreiben. Am vierten oder fünften Abend war er still und trotzig und klagte endlich, als ich ihn fragte, was ihm fehle: »Ich glaube, du willst deinen Vater nimmer ins Wirtshaus lassen.«
»Keine Rede«, sagte ich, »du bist der Vater und ich der Bub, und wie's gehalten werden soll, ist deine Sache.«
Er blinzelte mich prüfend an, dann nahm er vergnügt seine Mütze, und wir marschierten selbander zum Wirtshaus.
Es war deutlich zu sehen, daß meinem Vater ein längeres Zusammenbleiben zuwider gewesen wäre, obwohl er nichts darüber sagte. Auch trieb es mich, irgendwo in der Fremde die Beruhigung meines zwiespältigen Zustandes abzuwarten. »Was meinst du, wenn ich dieser Tage wieder abreiste?« fragte ich den Alten. Er kratzte sich den Schädel, zuckte die schmalgewordenen Achseln und lächelte schlau und abwartend: »Je, wie du willst!« Ehe ich reiste, suchte ich einige Nachbarn sowie die Klosterleute auf und bat sie, ein Auge auf ihn zu haben. Auch benützte ich noch einen schönen Tag zur Besteigung des Sennalpstocks. Von seiner halbrunden, breiten Kuppe überschaute ich Gebirg und grüne Tale, blanke Wasser und den Dunst entfernter Städte. All dies hatte mich als Knaben mit mächtigem Verlangen erfüllt, ich war ausgezogen, mir die schöne, weite Welt zu erobern, und nun lag sie wieder vor mir ausgebreitet, so schön und so fremd wie je, und ich war bereit, aufs neue hinüberzugehen und noch einmal das Land des Glückes zu suchen. Meinen Studien zuliebe hatte ich längst beschlossen, einmal für längere Zeit nach Assisi zu gehen. Ich fuhr nun zunächst nach Basel zurück, besorgte das Nötigste, packte meine paar Sachen ein und schickte sie nach Perugia voraus. Ich selber fuhr nur bis Florenz und pilgerte von dort langsam und behaglich zu Fuße südwärts. Dort unten braucht man zum freundschaftlichen Verkehr mit dem Volke keinerlei Künste zu verstehen; das Leben dieser Leute liegt stets an der Oberfläche und ist so simpel, frei und naiv, daß man von Städtchen zu Städtchen sich mit einer Menge von Leuten harmlos befreundet. Ich fühlte mich wieder geborgen und heimisch und beschloß, auch später in Basel die wärmende Nähe menschlichen Lebens nicht wieder in der Gesellschaft, sondern unter dem schlichten Volke zu suchen.
In Perugia und Assisi bekam meine historische Arbeit wieder Interesse und Leben. Da auch das tägliche Dasein dort eine Lust war, begann mein schadhaft gewordenes Wesen bald wieder zu gesunden und neue Notbrücken zum Leben zu schlagen. Meine Hauswirtin in Assisi, eine redselige und fromme Gemüsehändlerin, schloß auf Grund einiger Gespräche über den Santo eine innige Freundschaft mit mir und brachte mich in den Geruch eines strammen Katholiken. So unverdient diese Ehre war, brachte sie mir doch den Vorteil, mit den Leuten intimer umgehen zu können, da ich frei vom Verdacht des Heidentums war, der sonst jedem Fremden anhaftet. Die Frau hieß Annunziata Nardini, war vierunddreißig Jahre alt und Witwe, von kolossalem Körperumfang und sehr guten Manieren. Sonntags sah sie in einem geblümten, fröhlich farbigen Kleid wie der leibhaftige Festtag aus, dann trug sie außer den Ohrringen auch noch eine goldene Kette auf der Brust, an welcher eine Reihe von Medaillen aus Goldblech läutete und leuchtete. Auch schleppte sie dann ein silberbeschlagenes, schweres Brevier mit sich herum, dessen Gebrauch ihr jedenfalls schwergefallen wäre, und einen schönen schwarzweißen Rosenkranz mit Silberkettchen, den sie desto gewandter handhaben konnte. Wenn sie dann zwischen zwei Kirchgängen in der Loggetta saß und den bewundernden Nachbarinnen die Sünden abwesender Freundinnen aufzählte, lag auf ihrem runden, frommen Gesicht der rührende Ausdruck einer mit Gott versöhnten Seele.
Ich hieß, da mein Name den Leuten unmöglich auszusprechen war, einfach Signor Pietro. An den schönen, goldigen Abenden saßen wir beisammen in der winzigen Loggetta, Nachbarn, Kinder und Katzen dabei, oder im Laden zwischen den Früchten, Gemüsekörben, Samenschachteln und aufgehängten Rauchwürsten, erzählten einander unsre Erlebnisse, besprachen die Ernteaussichten, rauchten eine Zigarre oder sogen jeder an einem Melonenschnitz. Ich berichtete vorn heiligen Franz, von der Geschichte der Portiunkula und der Kirche des Santo, von der heiligen Klara und von den ersten Brüdern. Ernsthaft hörte man zu, stellte tausend kleine Fragen, lobte den Heiligen und ging zur Erzählung und Erörterung neuerer und sensationeller Ereignisse über, unter welchen Räubergeschichten und politische Fehden besonders beliebt waren. Zwischen uns spielten und balgten sich die Katzen, Kinder und Hündlein. Aus eigener Lust und um meinen guten Ruf aufrechtzuerhalten, durchstöberte ich die Legende nach erbaulichen und rührenden Geschichten und freute mich, neben wenigen andern Büchern auch Arnolds »Leben der Altväter und anderer gottseliger Personen« mitgebracht zu haben, dessen treuherzige Anekdoten ich mit kleinen Variationen in ein vulgäres Italienisch übertrug. Vorübergehende blieben ein Weilchen stehen, hörten zu, plauderten mit, und oft wechselte so die Gesellschaft an einem Abend drei-, viermal, nur Frau Nardini und ich waren seßhaft und fehlten nie. Ich hatte meinen Rotwein im Fiasco neben mir stehen und imponierte dem armen und mäßig lebenden Völklein durch meinen stattlichen Weinverbrauch. Allmählich wurden auch die scheuen Mädchen der Nachbarschaft zutraulicher und beteiligten sich am Gespräch von der Türschwelle aus, ließen sich Bildchen schenken und begannen, an meine Heiligkeit zu glauben, da ich weder zudringliche Scherze machte, noch überhaupt mich um ihre Vertraulichkeit zu bemühen schien. Unter ihnen waren einige großäugige, träumerische Schönheiten, welche aus Bildern des Perugino zu stammen schienen. Ich hatte sie alle gern und freute mich ihrer gutmütig schalkhaften Gegenwart, doch war ich nie in eine von ihnen verliebt, denn die hübschen unter ihnen glichen einander so sehr, daß ihre Schönheit mir stets nur als Rasse und nie als persönlicher Vorzug erschien, öfters stellte sich auch Matteo Spinelli ein, ein junges Bürschchen, Sohn des Bäckermeisters, ein geriebener und witziger Kerl. Er konnte eine Menge Tiere nachahmen, wußte über jeden Skandal Bescheid und stak zum Bersten voll von frechen und schlauen Unternehmungen. Wenn ich Legenden erzählte, hörte er mit einer Frömmigkeit und Demut ohnegleichen zu, machte sich nachher aber über die heiligen Väter in naiv vorgebrachten boshaften Fragen, Vergleichen und Vermutungen lustig, zum Entsetzen der Obstfrau und unverhohlenen Entzücken der meisten Zuhörer.
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