Es wurde Nacht. Und nach vielen vergeblichen Bemühungen gaben sie den Versuch auf, das Boot an die Küste zu bringen. Hilflos trieben sie weiter durch die eisige Dunkelheit.
«Und was geschieht, wenn wir an Dawson vorbeitreiben?«fragte Kurz.
«Dann müssen wir eben zu Fuß zurückgehen«, antwortete Kid,»wenn wir nicht vorher das Pech haben, im Packeis zerquetscht zu werden.«
Der Himmel war klar, und beim kalten Schein der Sterne sahen sie hin und wieder flüchtig die Silhouetten der Berge, die zu beiden Seiten in weiter Ferne emporragten. Gegen elf Uhr hörten sie unter sich ein dumpfes Knarren und Brüllen. Ihre Fahrt begann sich zu verlangsamen. Eisschollen stellten sich ihnen in den Weg, schoben sich übereinander, türmten sich auf und rutschten auf sie herab. Das Packeis drohte sie zu zerquetschen; eine Scholle, die nach oben geschoben wurde, zerriß die eine Seite des Bootes. Es versank zwar nicht, denn es wurde von dem Floß getragen, in dem es feststeckte, aber eine Sekunde lang sahen sie das schwarze Wasser kaum einen Fußbreit von der zerschlagenen Seite des Bootes auftauchen. Dann hörte jede Bewegung auf. Nach einer halben Stunde begann die ganze Eisdecke des Flusses sich zu bewegen, und fast eine Stunde lang glitt das Boot dann mit der ganzen Eisfläche weiter den Fluß hinab, bis neues Packeis eine Stockung verursachte. Wieder kam das Boot dann ins Treiben, und diesmal lief die Strömung schnell und wild; man hörte immerfort das Scheuern und Knarren der Schollen und Flöße. Bald darauf entdeckten sie Lichter an Land, und gerade als sie schon daran vorbeilaufen wollten, gaben das Gesetz der Schwere und der Yukon das Spiel auf, und der Fluß legte sich für sechs Monate zur Ruhe. Einige Neugierige, die bei Dawson am Ufer standen, um zu sehen, wie der Fluß zufror, hörten durch die Dunkelheit Kurz' Schlachtlied:
«Wie den alten Argonauten
Kann uns keiner heut verwehren
Auszuziehen, tum — tum — tum,
Um das Goldne Vlies zu scheren.«
Drei Tage schufteten Kid und Kurz dann wieder, um die anderthalb Tonnen Gepäck von der Mitte des Flusses zu dem Bretterverschlag zu schaffen, den Stine und Sprague auf dem Hügel gemietet hatten, von dem aus man ganz Dawson überblicken konnte. Als die Arbeit beendet war und alle in der warmen Hütte saßen, rief Sprague Kid zu sich. Draußen zeigte das Thermometer fünfundsechzig Grad Fahrenheit unter Null.
«Ihr Monat ist freilich noch nicht ganz um«, sagte Sprague.»Aber hier haben Sie Ihren vollen Monatslohn. Und ich wünsche Ihnen guten Erfolg.«
«Aber wie steht es denn mit unserem Vertrag?«fragte Kid.»Sie wissen ja, daß hier Hungersnot herrscht. Man kann nicht einmal, wenn man seinen eigenen Proviant hat, in den Minen Arbeit bekommen. Sie haben sich ja einverstanden…«
«Ich weiß nichts von einem Vertrag«, unterbrach ihn Sprague.»Du doch auch nicht, Stine?«
«Wir haben Sie für einen Monat engagiert, und hier haben Sie Ihr Geld. Wollen Sie die Quittung unterschreiben oder nicht?«
Kid ballte die Fäuste, und ihm wurde einen Augenblick rot vor Augen. Die beiden wichen erschrocken zurück. Noch nie hatte Kid einen Mann im Zorn geschlagen, aber er fühlte sich so sicher, Sprague niederschlagen zu können, daß es ihm einfach widerstrebte, es zu tun.
Kurz, der die schwierige Lage Kids erkannte, legte sich ins Mittel.
«Schau mal her, Kid, ich arbeite sowieso nicht weiter bei dem schäbigen Gesindel. Jetzt hab' ich auch mehr als genug und mach' mich dünne. Du und ich, wir halten zusammen, nicht? Nimm deine Decken und marschier geradewegs in den "Elch". Ich begleiche nur noch die Rechnung hier. Nehme mir, was mir zusteht, und gebe ihnen, was ihnen gebührt. Auf dem Wasser tauge ich ja nicht viel, aber hier, mit festem Boden unter den Füßen, fühle ich mich eher zu Hause. Jetzt werde ich mal Sturm blasen…«
Eine halbe Stunde später erschien Kurz im "Elch". Nach seinen blutigen Knöcheln und einer Hautabschürfung auf der rechten Wange zu schließen, hatte er den Herren Sprague und Stine offenbar gegeben, was ihnen gebührte.
«Du hättest nur die Hütte sehen sollen«, grinste er, als sie zusammen an der Bar standen.»Eine Rumpelkammer ist ein Staatssalon dagegen. Ich halte Menschendollars gegen Pfeffernüsse, daß keiner von ihnen sich die nächste Woche auf der Straße zeigen wird. Und jetzt wollen wir mal sehen, wie es für uns beide steht. Lebensmittel kosten anderthalb Dollar das Pfund. Arbeit kriegt man nicht, wenn man sich nicht selbst beköstigen kann. Elchfleisch verkaufen sie für zwei Dollar das Pfund — wenn sie es haben, aber sie haben nichts. Wir haben Geld genug, um uns Munition und Proviant für einen Monat zu kaufen, und dann marschieren wir den Klondike hinauf nach dem Hinterland. Wenn wir da keine Elche finden, bleiben wir einfach bei den Indianern. Aber wenn wir nicht binnen sechs Wochen mindestens fünftausend Pfund Elchfleisch gekriegt haben, dann…ja, dann kehre ich reumütig zu unsern verflossenen Chefs zurück und bitte um gutes Wetter. Einverstanden?«
Kid gab dem Kameraden die Hand. Dann aber kamen ihm Bedenken.
«Ich habe ja keine Ahnung von der Jagd«, sagte er. Kurz hob sein Glas.
«Du bist ein Fleischesser — und ich werde dein Lehrmeister sein.«
Zwei Monate nachdem Alaska-Kid und Kurz auf die Elchjagd gegangen waren, um sich Proviant zu verschaffen, saßen sie wieder in der Kneipe "Zum Elch" in Dawson.
Die Jagd war glücklich beendet, das Fleisch hergeschafft und für zwei und einen halben Dollar das Pfund verkauft worden.
Gemeinsam verfügten sie jetzt über dreitausend Dollar in Goldstaub und über ein gutes Hundegespann. Sie hatten entschieden Glück gehabt. Obgleich der Zustrom von Goldsuchern das Wild hundert Meilen oder mehr in die Berge hineingetrieben hatte, war es ihnen doch schon, als sie die halbe Entfernung zurückgelegt hatten, gelungen, in einer engen Schlucht vier Elche zu erlegen.
Das Geheimnis, wie diese Tiere sich gerade dorthin verirrt hatten, war jedenfalls nicht größer als das Glück, das die beiden Jäger verfolgte. Denn noch ehe der erfolgreiche Tag zu Ende gegangen war, stießen sie auf ein Lager mit einigen ausgehungerten Indianerfamilien, die ihnen berichteten, daß sie seit drei Tagen kein Wild gesehen hätten. Kid und Kurz gaben ihnen Fleisch im Tausch gegen einige halbverhungerte Hunde. Nachdem sie die Tiere dann eine Woche lang tüchtig aufgefüttert hatten, spannten sie sie vor den Schlitten und fuhren das Fleisch auf den sehr aufnahmefähigen Dawsoner Markt.
Jetzt handelte es sich für die beiden Männer darum, ihren Goldstaub in Lebensmittel zu verwandeln.
Der augenblickliche Preis für Mehl und Bohnen betrug anderthalb Dollar das Pfund, aber die Schwierigkeit bestand darin, daß niemand verkaufen wollte. Dawson lag eben in den ersten Wehen einer Hungersnot.
Hunderte von Männern, die Geld, aber keine Lebensmittel besaßen, hatten das Land verlassen müssen. Viele von ihnen waren, solange das Wasser noch offen war, den Fluß hinabgezogen, und noch mehr waren die sechshundert Meilen über das Eis nach Dyea gewandert, obgleich sie kaum Lebensmittel genug für die Wanderung bei sich hatten.
Kid und Kurz trafen sich in der warmen Kneipe. Kid bemerkte gleich, daß sein Kamerad blendender Laune war.
«Das Leben ist wahrhaftig kein Festessen, wenn man nicht wenigstens Whisky und etwas Süßes dazu hat«, lautete Kurz' Gruß, während er ganze Eisklumpen aus seinem Schnurrbart zog, der langsam aufzutauen begann. Man hörte die Eisklumpen auf den Boden prasseln, wenn er sie wegschleuderte.
«Ich habe eben in diesem heiligen Augenblick achtzehn Pfund Zucker gekauft! Der Esel verlangte nur drei Dollar das Pfund. Und wie ist es dir ergangen?«
«Ich war auch nicht faul«, antwortete Kid stolz.»Ich habe fünfzig Pfund Mehl bekommen. Und am Adamsbach wohnt ein Mann, der hat mir versprochen, mir morgen noch fünfzig Pfund zu geben.«
Читать дальше