Kid folgte ihm freiwillig und warf ihn um, als er gerade wieder aufstand.
«Ich habe den Weg zuerst gefunden«, fauchte Kurz und zog die Handschuhe aus, um den Schnee aus den Stulpen zu schütteln.
Im nächsten Augenblick mußten sie wie die Wilden durch den Schnee kriechen, um nicht mit den vielen, die ihnen folgten, zusammenzustoßen.
Als der Fluß seinerzeit zugefroren war, hatte sich hier Packeis angesammelt, und überall lagen in wilder Verwirrung Eisschollen, die der frische Schnee verbarg.
Als beide mehrmals gestürzt waren und sich tüchtig geschlagen hatten, zog Kid sein Licht hervor und zündete es an. Die Leute hinter ihnen gaben ihren Beifall durch laute Zurufe kund. In der windstillen Luft brannte die Kerze ganz klar, und es war jetzt tatsächlich leichter, den Weg zu finden.
«Es ist wahrhaftig das reine Wettrennen«, stellte Kurz fest.»Oder meinst du vielleicht, daß es lauter Schlafwandler sind?«
«Wir befinden uns jedenfalls an der Spitze der ganzen Kolonne«, antwortete Kid.
«Da bin ich nun nicht ganz so sicher. Vielleicht ist es nur eine Feuerfliege da vorn. Vielleicht sind es lauter Feuerfliegen, die da — und die dort. Guck sie dir nur an! Glaub mir, es ist eine ganze Reihe da vorn.«
Der Weg nach der andern Seite des Yukon führte eine ganze Meile weit über das Packeis, und überall auf dieser ganzen weiten gewundenen Strecke flammten Kerzen auf. Und hinter ihnen flammten noch mehr Lichter den Fluß entlang bis zu den Uferhängen.
«Weißt du, Kid, das ist schon kein Wettrennen mehr, das ist ja wie der Auszug aus Ägypten. Es müssen mindestens tausend vor uns und tausend hinter uns sein. Jetzt solltest du auch mal den guten Rat deines alten Onkels hören! Meine Medizin ist gut. Wenn ich eine Vorahnung bekomme, dann stimmt sie immer. Und meine Vorahnung sagt mir, daß wir bei diesem Wettrennen Pech haben werden. Laß uns ruhig umkehren und weiterpennen.«
«Spar dir lieber deine Puste, wenn du durchhalten willst«, knurrte Kid mürrisch.
«Uha, uha! Meine Beine sind freilich etwas kurz geraten, aber ich schleiche so besonnen mit schlappen Knien, ohne meine Muskeln zu überanstrengen, und ich bin todsicher, daß ich noch jeden Schnelläufer hier überholen kann.«
Und Kid wußte, daß Kurz recht hatte, denn er hatte schon längst die einzig dastehenden Fähigkeiten seines Kameraden im Marschieren kennengelernt.
«Ich habe mich ja auch nur zurückgehalten, um dir eine Chance zu geben«, neckte ihn Kid.
«Und ich laufe hier und trete dir auf die Hacken. Wenn du es nicht besser kannst, muß du mich lieber vorangehen und das Tempo angeben lassen.«
Kid erhöhte die Schnelligkeit und hatte bald den nächsten Haufen der Wettläufer eingeholt.
«Mach jetzt ein bißchen schnell, Kid«, drängte sein Kamerad.»Laß die Toten liegen. Es ist ja kein Leichenbegängnis. Hau die Füße tüchtig in den Schnee, als wären es Pflastersteine.«
Kid zählte acht Männer und zwei Frauen in dieser Gruppe, aber noch ehe sie das Packeis hinter sich hatten, überholten sie schon die zweite Gruppe, die aus zwanzig Männern bestand. Wenige Fuß von dem Westufer schwenkte der Weg nach Süden ab, und das Packeis wurde durch ein glattes Eisfeld ersetzt, das jedoch von frischem, mehrere Fuß hohem Schnee bedeckt war. Durch diesen Schnee lief die Schlittenbahn, ein schmales Band, knapp zwei Fuß breit, wo der Schnee von den vielen Füßen festgestampft war. Zu beiden Seiten dieses Pfades sank man bis zu den Knien oder noch tiefer ein.
Die Wettläufer, die von ihnen überholt wurden, waren nicht sehr geneigt, ihnen Platz zu machen, und Kid und Kurz mußten deshalb stets in den tiefen Schnee hinauswaten und konnten nur unter ungeheuren Anstrengungen vorbeigelangen.
Kurz war ebenso unüberwindlich wie pessimistisch. Wenn die Goldsucher schimpften, weil sie überholt wurden, antwortete er ihnen in derselben Tonart.
«Warum habt ihr es denn so eilig?«fragte einer.
«Warum ihr?«gab er zurück.»Gestern nachmittag ist eine ganze Bande von Goldsuchern vom Indianerfluß gekommen und hat euch den Rahm abgeschöpft. Es gibt keine Claims mehr.«
«Wenn das wahr ist, dann möchte ich wissen, warum ihr es so eilig habt?«
«Wer, wir? Ich suche gar kein Gold. Ich stehe im Dienst der Regierung. Ich bin in amtlichem Auftrag hier. Ich soll am Squawfluß eine Volkszählung abhalten.«
Und als ein anderer ihn mit den Worten begrüßte:»Wo willst du denn hin, Kleiner? Glaubst du wirklich, daß noch Platz für dich im Wagen ist?«, antwortete er:»Für mich? Ich bin doch der Entdecker der Goldminen am Squawbach. Ich habe eben in Dawson meine Mutung eintragen lassen, damit mir kein Chechaquo die Claims wegnimmt.«
Die durchschnittliche Schnelligkeit, die die Wettläufer auf dem glatten Boden erreichten, betrug drei und eine halbe Meile stündlich. Kurz und Kid machten vier und eine halbe, aber sie liefen auch hin und wieder eine kurze Strecke und kamen dann noch schneller vorwärts.
«Ich werde dir schon die Beine ablaufen!«rief Kid herausfordernd.
«Hoho, ich laufe auf den Stummeln weiter und trete dir die Hacken von den Mokassins. Übrigens ist es gar nicht nötig! Ich habe die Sache im Kopf nachgerechnet. Die Claims am Bach messen je fünfhundert Fuß — es kommen also, sagen wir, zehn Stück auf die Meile. Und es sind noch tausend Wettläufer vor uns, und der ganze Bach ist keine hundert Meilen lang. Irgend jemand muß also verlieren, und ich habe eine Ahnung, als ob wir das wären.«
Bevor Kid antwortete, machte er eine große Kraftanstrengung und ließ Kurz ein halbes Dutzend Fuß zurück.
«Wenn du dir deine Puste ein bißchen sparen würdest, könnten wir schon ein paar von den Tausend einholen!«schimpfte er.
«Wer? Ich? Wenn du ein bißchen aus dem Wege gehst, werde ich dir zeigen, was Schnelligkeit heißt.«
Kid lachte und legte sich wieder ins Geschirr. Die ganze Geschichte hatte natürlich ein anderes Aussehen bekommen. Durch den Kopf schoß ihm ein Ausdruck des sonderbaren deutschen Philosophen:»Die Umwertung der Werte…«Eigentlich machte es ihm viel weniger Spaß, ein Vermögen zu gewinnen, als Kurz zu besiegen. Und alles in allem, überlegte er, kam es ja gar nicht auf den Gewinn an, sondern auf das Spiel selbst. Wille und Muskeln, Seele und Säfte mußten in diesem Wettstreit mit Kurz bis zum äußersten angespannt werden, obgleich Kurz ein Mann war, der nie ein Buch geöffnet hatte und eine große Oper nicht von einer Tanzmelodie, ein Epos nicht von einer Frostbeule unterscheiden konnte.
«Kurz, ich werde dir schon geben, was du brauchst! Ich habe seit dem Tage, an dem ich in Dyea ankam, jede einzelne Zelle in meinem Körper neu aufgebaut. Meine Muskeln sind jetzt so zäh wie Peitschenschnüre und so bitter und böse wie der Biß einer Klapperschlange. Vor einigen Monaten hätte ich mich selbst angejauchzt, wenn ich etwas hätte schreiben können, aber damals konnte ich es einfach nicht. Ich mußte es erst erlebt haben, und jetzt, da ich es erlebe, habe ich gar keine Lust, es niederzuschreiben. Ich bin wirklich in jeder Beziehung hart und erprobt. Kein dreckiger Wicht von Gebirgler kann mir etwas bieten, ohne es hundertfach bezahlen zu müssen. Jetzt kannst du ja in Führung gehen, und wenn du genug hast, übernehme ich sie und werde dir eine halbe Stunde lang mehr als genug zu schaffen machen.«
«Donnerwetter!«grinste Kurz lustig.»Und dabei ist er noch nicht einmal trocken hinter den Ohren. Geh mir jetzt aus dem Wege und laß Papa seinem kleinen Jungen zeigen, wie man's macht.«
Dann lösten sie sich jede halbe Stunde in der Führung ab.
Sie sprachen nicht mehr viel. Die Anstrengung hielt sie warm, obgleich der Atem auf ihren Gesichtern von den Lippen bis zum Kinn zu Eis wurde. So stark war die Kälte, daß sie unaufhörlich ihre Nasen und Wangen mit den Handschuhen reiben mußten. Sobald sie nur für kurze Zeit damit aufhörten, wurde das Fleisch sofort unempfindlich und mußte in der allerenergischsten Weise gerieben werden, damit sie wieder das brennende Prickeln empfanden, das die Rückkehr des normalen Blutumlaufes kennzeichnete.
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