Sie beendeten die Arbeit an dem Windschutz. Er pfiff und schnalzte und summte sie an, und Heide gab ihm beruhigende Antworten und pfiff sogar etwas, das er zu verstehen schien. Offenbar handelte es sich um ein Wort aus seiner Sprache. Sofort pfiff er auf sie ein, doch sie schüttelte den Kopf und wiederholte ein paar tiefe, gurrende Laute, gefolgt von Worten in ihrer eigenen Sprache. Iss, trink.
— Dange, sagte er.
Anschließend beauftragte Heide die Jungen damit, ihn zu bewachen und ihm ein paar der schlechtesten Winternüsse zu geben, während sie sein Bein mit ihrer Medizin versorgte. — Es muss sich vor allem erholen, sagte sie zu Eistaucher. — Verletzungen müssen ruhen, man darf es nicht zu schnell angehen. Sie heilen, aber das braucht Zeit. Deshalb musst du der Verletzung Zeit geben. Ein und ein halber Mond für die Verletzung, die du hattest, und die gleiche Zeit für ihn.
Dem Alten musste sie wohl etwas Ähnliches zugepfiffen haben, denn fast einen Monat lang lag er herum und aß und trank, was Heide und Eistaucher ihm brachten. In dieser Zeit brachte sie ihm mehrere Worte bei, aber meistens sagte sie einfach nur — langsam, langsam, wobei sie die Bedeutung des Worts mit Handbewegungen untermalte. Dann nickte er, indem er sich aus der Hüfte vorbeugte, und sagte mit sichtlicher Anstrengung: — La-ssam, La-ssam.
Als er schließlich wieder halbwegs auf die Beine gekommen war, ging er eines Morgens nach Sonnenaufgang zu ihr, umfasste ihre Hand mit seinen Händen, pfiff kurz und machte sich auf zum Passweg. Später sahen sie ihn noch dann und wann in der Ferne, wie man gelegentlich auch andere Waldleute aus der Gegend sah, die zwar meistens versuchten, nicht entdeckt zu werden, aber manchmal nachlässig wurden. Und dann und wann fand sich eine Gabe in Form eines Schneehasen oder eines Zickleins oder von Blumen vor Heides Nest. Und auch sie hinterließ in der Nähe des zusammengestürzten Unterschlupfes immer wieder etwas für ihn, genau, wie sie ihrer Katze etwas hinlegte.
Weil Eistaucher bei Heide schlief und ihr half, erhaschte er öfter als die meisten anderen einen Blick auf den Alten; und weil er mit Dorn oder für Dorn loszog, um Erdblutklumpen von der Stelle unter dem Nordgrat zu holen, die sie als Hünenstatt bezeichneten, sah er den Alten auch immer wieder draußen. Anscheinend lebte er wie ein Waldmann: Er war von seinem Rudel getrennt, falls er jemals eines gehabt hatte. Mit schweren Bärenschritten zog er seine Runden, stellte Fallen für kleine Tiere und Vögel auf und aß unterwegs Beeren und Grassamen. Er bewegte sich seltsam und roch ein wenig vergoren. Sein Bart sah aus wie der Bart einer Saiga, hing ihm als Gegengewicht zu seinen klobig vorspringenden Brauen vom Kinn herab. Seine Hakennase war wahrscheinlich irgendwann mal seitlich gebrochen. Sein Haar wurde von einem Lederband gehalten und hing ihm über die Schultern. Er trug immer einen Pelzumhang und ging inzwischen barfuß. Anscheinend waren seine Bärenfellschuhe zerfallen, und er wusste nicht, wie man sich neue anfertigte.
Dorn meinte, man könne kein guter Graveur werden, ohne zu lernen, wie man gute Werkzeuge herstellt. Ein guter, gerader Stichel, ein paar gute Klingen und ein Schaber mit einer schönen scharfen Kante, darauf kam es an. Wenn man Stein mit Stein bearbeitete, dann mussten die Schneidwerkzeuge so hart und scharf wie möglich sein.
Also saßen sie in der Sonne und bearbeiteten Feuersteinbrocken mit Hacksteinen aus Granit und Schiefer.
Dorn streckte sich wie eine Katze in der Sonne und sagte: — Moment, ich sehe etwas.
— Nicht schon wieder eins von deinen Rätseln.
— Es sind nicht meine Rätsel. Es sind die Rätsel der Welt. Pass auf:
Es schweigt mein Kleid, wenn ich am Boden schreite
Oder daheim bin oder einen Fluss überquere.
Manchmal erhebt mein Leben und des Windes Auftrieb
Mich über das Reich, in dem Menschen wandeln,
Und die Macht der Wolken trägt mich weiter
Über die Menschenwelt, und mein Kleid
Klingt laut in seinem Lied.
Bin ich losgelöst von Erde und Wasser
Ein fliegender Geist, dann schallt es klar.
Jetzt finde heraus, was ich bin.
— Du bist der zweite Atem, sagte Eistaucher, der daran dachte, wie er kürzlich mit Falke und Moos von der Jagd zurückgekehrt war. Es freute ihn, dass er die Antwort so schnell erkannt hatte.
Dorn lachte.
— Was ist, habe ich nicht recht?
Dorn tippte sich erst rechts und dann links an den Kopf, was sein Zeichen für Ja und Nein war. — Es ist wie der zweite Atem, räumte er ein, — aber du denkst zu klein.
— Der zweite Atem ist niemals klein, wandte Eistaucher ein.
Es hieß, dass Dorn in seiner Jugend ein sehr starker Jäger gewesen war, aber davon hatte Eistaucher nie etwas gesehen. Vielleicht hatte er vergessen, wie der zweite Atem sich anfühlte, wenn er in einen hineinfuhr.
— Das stimmt, räumte Dorn ein, — der zweite Atem ist groß. Aber die Antwort ist etwas noch Größeres.
— Ich denke darüber nach.
— Und gleichzeitig kleiner, vergiss das nicht. Die meisten Jungen, denen man dieses Rätsel aufgibt, sagen, dass es von einem Grashüpfer handelt. Und dann lachte Dorn, als er Eistauchers Miene sah.
Dorn verbrachte den Morgen oft damit, sich auf dem Plateau am Ende des Lagers, wo unter den Bäumen eine Mischung aus Licht und Schatten herrschte, um die Kinder zu kümmern. Die Kleinen behandelte er ganz anders als die Erwachsenen. Er saß mitten unter ihnen, spielte mit ihren Spielzeugen und alberte herum, brachte ihnen aber gleichzeitig immer etwas bei. — Mit ihnen ist es so viel einfacher als mit euch, sagte er immer zu Heide und Eistaucher.
— Kinder sind die wahren Menschen, verkündete Heide dann meistens, wobei Eistaucher sich nie sicher war, ob sie es sarkastisch meinte oder nicht.
— Tja, da hast du recht. Sie sind noch nicht alt genug, um Probleme zu haben. Ich bin euch und eure ganzen Probleme so was von leid. Männer und Frauen sind nichts als große Säcke voller Probleme.
— Du musst es wissen, sagte Heide.
— Allerdings, wenn ich mir euch und den Rest ansehe. Bei den Kindern verbringe ich meine Zeit sehr viel sinnvoller.
— Der kleine Finger einer Mutter ist mehr wert als ein ganzes Rudel Schamanen, erinnerte Heide ihn.
Dorn winkte mit dem Handrücken ab.
Aber bei den Kindern in der Morgensonne war alles anders.
— Moment, ich sehe etwas: kleine Punkte in der Ferne.
— Die Vögel kommen zurück, sagten die Kinder.
— Ganz genau. Unsere Sommerfreunde. Die werden wir schon sehr bald wiedersehen. Aber Moment mal, ich sehe etwas: kleine Holzkrümel, die aus einem Baum fallen.
— Das Raufußhuhn isst dort oben, sagte eines der Kinder. Wenn nur ein Kind etwas sagte, dann war es normalerweise Donners Tochter Stern.
— Das stimmt. Manche Leute nennen sie auch Steinpocher, wegen des lustigen, sausenden Geräuschs, das sie beim Rennen machen. Das Geräusch kennt ihr doch. In besonders kalten Nächten schlafen sie unter einer Schneedecke. Wenn man an einem verschneiten Morgen herumläuft, kann man manchmal eines überraschen und fangen. Aber dafür muss man schnell sein.
Die Kinder versicherten ihm, dass sie schnell seien, und er pflichtete ihnen bei.
— Moment, ich sehe etwas: kleine, über den Schnee verteilte Holzkohlestückchen.
Schweigen.
— Niemand? Es sind welche von den Winterweißen. Die Schnäbel von Schneehühnern. Im Winter sind sie so weiß, dass man nur ihre Schnäbel sehen kann. Sieht lustig aus. Moment mal, ich sehe etwas: in den Büschen sind wir weit geöffnet.
Erneutes Schweigen.
— Noch ein Winterweißes! Das sind die Augen des Schneeschuhhasen. Mit denen beobachten sie einen, während sie in ihren Verstecken sitzen, und tatsächlich kann man nichts von ihnen sehen außer den Augen. Wie wäre es damit: Moment, ich sehe etwas: ein Stück verkohltes Holz, das in der Luft herumwedelt.
Читать дальше