Der Morgen verging, während er den Stein zermahlte. Es war so angenehm, in der Sonne zu sitzen und ihre Wärme aufzusaugen. Er achtete darauf, Kreuch und Spucke in die Sonne zu halten, denn das machte sie glücklich. So schön war es, dass er einschlief und dabei im Traum weiter Erdblut abkratzte, genau wie er es im Wachzustand getan hatte, sodass er kaum noch wusste, in welcher Welt er sich gerade befand, und es auch nicht wissen musste. Gepriesen sei die Sonnenwärme!
Während er arbeitete, ging Dorn die ganze Zeit umher und murmelte vor sich hin. Er und Heide passten in dieser Beziehung bestens zueinander. Sie waren wie ein Paar in einer schlechten Ehe, und manche Leute behaupteten sogar, dass sie eine schlechte Ehe miteinander gehabt und sich getrennt hatten, bevor irgendjemand sonst aus dem Rudel auch nur auf der Welt gewesen war. Ob das nun stimmte oder nicht, Eistaucher bekam ihre ständigen Streitereien aus nächster Nähe mit. Tatsächlich spielte er die beiden sogar gegeneinander aus, um sich zwischen den beiden selbst ein bisschen Raum zu verschaffen.
Beide redeten ununterbrochen. Wenn Dorn einmal innehielt, dann normalerweise nur, weil er eingeschlafen war. An diesem Morgen erzählte er einmal mehr die Geschichte des langen Winters, bei der es sich um eine seiner Lieblingsgeschichten handelte. Die schlimmen Geschichten mochte er immer am liebsten, aber nur, wenn man sie zur rechten Zeit erzählte. Eistaucher hörte ihm beim Kratzen zu oder ließ sich eher von Dorns Worten umspülen wie von dem Keckern der Eichhörnchen in den Bäumen.
Dorns leise Stimme klang wie der heisere Ruf eines Raben:
Damals, in den alten Zeiten, lebten wir wie Vögel,
Zu jeder Jahreszeit, bei Regen, Schnee oder Sonnenschein
Pickten wir und zitterten und taten, was wir konnten.
Doch heißt es, dass einst, vor langer Zeit,
Als wir so tief im Süden lebten,
Dass die Sonne am nördlichen Himmel stand,
Kein Frühling auf den Winter folgte.
Auch der Sommer kam nicht in jenem Jahr,
Die Tage wurden zwar länger, doch blieb es schrecklich kalt,
Kalt stürmte es Frühling, Sommer und Herbst,
Und kalt blieb es bis zum folgenden Winter,
Sodass niemand mehr Essen fand.
Das Gleiche geschah auch im nächsten Jahr,
Auch im Jahr darauf kam der Sommer nicht wieder,
Nichts als Winter, ZEHN LANGE JAHRE LANG.
Und gäbe es nicht die große, salzige See,
Dann wären alle überall gestorben und tot,
Und nicht ein Mensch wäre geblieben auf der Mutter Erde.
Das grimmige Krächzen, mit dem Dorn diese Sätze sprach, war denkwürdig. Diesen Teil sagte er immer auf die gleiche Art auf, hoch aufgerichtet und mit dem Gesicht zur Sonne.
Anschließend ging er dann umher und zählte mit morbidem Vergnügen all die verschiedenen Hungertode auf, die die armen sommerlosen Leute gestorben waren, ihr Leid und ihre Schmerzen und all die seltsamen Dinge, die sie hatten essen müssen, um zu überleben. Aufzählungen liebte Dorn seit jeher, mit ihren Dreimaligkeiten, mit all den Worten, bei denen er die Lippen spitzte, als spuckte er Kerne aus, und dabei jede einzelne sichtlich genoss. Auf eben diese Weise zählte er in den Hungergeschichten allerlei Nahrung auf, und das natürlich immer genau in dem Monat, in dem sie selbst bei ihren letzten Beuteln mit Nüssen und Fett angelangt waren und jeden Tag loszogen, um nach leeren Fallen zu sehen und Schneeschuhhasen und Moorhühner zu jagen, und den südlichen Himmel mit Blicken absuchten, in der Hoffnung, die Enten heimkehren zu sehen. Wenn die Enten heimkehrten, waren die Hungermonate vorbei, aber normalerweise war es erst gegen Ende des fünften Monats, manchmal sogar erst im sechsten so weit. Bis dahin würden sie sich ihr Essen in kleinen Häppchen einteilen müssen und ein beständiges Zwacken in den Eingeweiden verspüren.
— Es macht dir Spaß, uns wehzutun.
— Ja! Genau darum geht es, wenn man Schamane ist! Man erzählt die Hungergeschichten, wenn die Leute hungrig sind. Das ist die Zeit, in der man sie wirklich fest im Griff hat. Nie ist es leichter, sie zum Weinen zu bringen, als dann, wenn sie ohnehin schon am Ende ihrer Kräfte sind. Das habe ich schon oft beobachtet. Und jetzt zähl mir auf, was sie während des zehnjährigen Winters zu essen hatten.
Eistaucher konnte sich immer nur dann an die Gedichte erinnern, wenn er sie von Dorn hörte, wenn er sie wiedererkannte, doch aus sich heraus konnte er sie nie richtig aufsagen. Er verlieh seinem Unmut also mit einem schweren Seufzer Ausdruck und sagte:
Wir aßen, was nach zehn Jahren Winter noch lebte,
Das waren Wellhörner und Muscheln und Meeresschnecken,
Das waren Seetang und Krebse und Napfschnecken und Aale.
Wir aßen Fische, wenn wir welche erwischten,
Und wenn nicht, aßen wir Scheiße.
Dorn nickte. In Gedanken war er bereits anderswo, was gut war, weil Eistauchers Aufzählung so kümmerlich kurz im Verhältnis zu denen von Dorn war. Eistaucher kratzte weiter Erdblut ab und streckte sich in der Sonne. Er spürte, wie das Licht in sein Bein eindrang und Kreuch beglückte.
Er erkannte, dass das, was er abkratzte, sein Leben war, sein Schicksal. Die Welt würde ihn genauso abwetzen, wie er dieses Stück Stein abwetzte. Es würde so weitergehen, bis Dorn starb, und dann würde der Haufen Körnchen namens Eistaucher ihn ersetzen und all das tun, was Dorn getan hatte, wozu auch gehörte, dass er selbst einen Lehrling abwetzen würde. Und dann würde er selbst sterben, und der Lehrling würde mit seinem Lehrling genauso verfahren, und so weiter und weiter und weiter und weiter und weiter und weiter und weiter und weiter und weiter und weiter und weiter, im Schein der Sonne würden sich Erdblut und ihr eigenes Blut vermischen.
Verglichen mit seiner Erinnerung an die Wanderschaft fühlte sich diese Vorstellung an, als wäre Kreuch in seine Brust hochgeklettert und würde sich nun dort rekeln. Welcher Schmerz ihm plötzlich die Kehle zuschnürte! Wie war das möglich? In den vierzehn Tagen seiner Wanderschaft hatten sich manchmal ganze Monate und sogar Jahre seines Lebens in jedem einzelnen Herzschlag zusammengeballt! So sollte das Leben doch wohl immer sein. Sicher war es doch besser, zweimal im Monat auf Wanderschaft zu gehen und dadurch für Dutzende von Dutzenden von Dutzenden Jahren zu leben.
Sitz in der Sonne und zermahle den Stein zu Pulver.
Ruhelose Nächte am Feuer und in seinem Bett, in denen er an seine Wanderschaft dachte und sich zu ihr zurücksehnte. Der entsetzte Blick der Ricke, die er getötet hatte, im Augenblick ihres Todes, trat ihm vor Augen. Sollte man nicht eigentlich jeden einzelnen Augenblick in einer solchen Angst leben, beständig in der bangen Hoffnung auf ein Weiterleben zittern? Wie er die Ricke geliebt hatte. Eistaucher liebte den Anblick von Rehen fast so sehr wie den von Pferden. Er trug die Zähne der getöteten Ricke noch immer um den Hals, und ihr Fell hatte er zwischen seinen Bettpelzen, obwohl es nicht richtig getrocknet war.
All die jungen Männer hatten Halsketten aus den Zähnen der von ihnen getöteten Tiere. Heide meinte, dass sie das seit jeher immer so lange taten, bis sich jemandem einer dieser Zähne bei einem Unfall ins Gesicht oder in den Hals bohrte. Dann verschwanden die Ketten wieder. Und tatsächlich trugen die älteren Männer sie nicht.
Eines Morgens erwachte Eistaucher aus einem Traum, in dem er bei seiner Ricke in ihrem Unterschlupf geschlafen hatte. Brust und Bauch hatte er gegen ihren Rücken gepresst, und sein harter Visel drückte gegen ihr Fell; den Arm hatte er um ihren Bauch gelegt. Sehr langsam und behutsam hatte er seinen Daumen in ihre etwas feuchte und glitschige Kolbi geschoben und ihn vorsichtig bewegt, sodass sie nicht aufwachte. Er hätte ewig so liegen bleiben können, sie beide zusammen, er bei ihr, aber weil sein Visel so fest gegen ihren Rumpf drückte, versuchte er schließlich doch, in sie hineinzustoßen; doch als er seinen Daumen herauszog, damit Platz für seinen Visel war, weckte er sie, und sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu und sprang dann mit einer einzigen Zuckung ihres Körpers aus dem Unterschlupf hinaus. Erschreckt und ungläubig sah sie ihn aus ihren riesigen, weit auseinanderstehenden braunen Augen an und sagte: — Du verlangst zu viel, ehe sie davonhuschte, ein weißes Aufblitzen zwischen den Bäumen.
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